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Chance Gentechnik

Chance Gentechnik

11    Kleinbauern in Asien erzeugen 90 Prozent der globalen Reisproduktion. Mehr als
2 die Hälfte verbrauchen sie selbst gleich wieder. Deshalb ist Reis auf dem Weltmarkt kein
3 intensiv gehandeltes Getreide. Dennoch ist es für etwa 60 Prozent der Armen dieser Welt
4 das Grundnahrungsmittel Nummer eins. Je billiger es produziert werden kann, um so eher
5 sind die Armen auf dem Land und in der Stadt in der Lage, ihren Bedarf zu decken. 1988
6 haben die Reisbauern aber weltweit fast 2,5 Milliarden Dollar für
7 Pflanzenbehandlungsmittel ausgegeben. Ein wesentliches Zuchtziel der Agrarforschung ist
8 deshalb die Senkung der Produktionskosten. Der billigste Weg hierzu ist verbessertes
9 Saatgut.
210    Nach bisherigen Erkenntnissen hat die »genetische Manipulation« des Reises vor
11 mehr als 7000 Jahren begonnen. Damals waren Ähren- und Körnerselektion die
12 wesentlichen Zuchtinstrumente. Die biotechnischen Methoden von heute unterscheiden
13 sich im Endergebnis nicht von denen der ersten Körnerauslese. Der Prozeß geschieht
14 lediglich im Zeitrafferverfahren und auf gezieltere Weise.
315    Die Reiszüchter von heute sind in der Lage, Einzelgene oder Genkombinationen zu
16 isolieren und gezielt zu übertragen. Diese Erbanlagen können von anderen
17 Pflanzenfamilien oder -arten oder von anderen Lebewesen stammen. Auf diese Weise
18 entstandene Züchtungen, die gegen Krankheiten und Schädlinge resistent sind, werden in
19 Zukunft vor allem finanzschwachen Bauern den Kauf von Pflanzenbehandlungsmitteln
20 weitgehend ersparen. Zur Zeit werden weltweit offiziell etwa 400 dieser sogenannten
21 transgenen Pflanzen im freien Feld getestet. Weil Reis kein Marktprodukt ist wie Tabak
22 oder Mais, spielt er in der biotechnologischen Forschung noch eine untergeordnete Rolle.
23 Das wird sich aber sehr bald ändern. Die Reis-Gen-Forschung wird aktiv vor al1em in den
24 USA, in Japan, den Philippinen und neuerdings in China betrieben.
425    Wer in diesem Zusammenhang aus der Ferne die Diskussion über Gentechnologie
26 in der Bundesrepublik verfolgt, muß sich um die Zukunft sorgen. Ein Land, das von seiner
27 wissenschaftlichen Führungsrol1e lebt, begibt sich ins biotechnologische Abseits und wird
28 zum wissenschaftlichen Ödland - verglichen mit Belgien oder Frankreich. Wie sollen die
29 im nächsten Jahrhundert erwarteten zusätzlichen Milliarden Menschen umweltfreundlich,
30 bodenschonend und menschenwürdig ernährt werden? Wer mit Argumenten
31 neuaufgelegter Maschinenstürmerei den Einsatz biotechnologischer Erkenntnisse
32 hemmen will, trägt schwer an der Verantwortung gegenüber denen, die uns schon bald
33 fragen werden, ob wir für ihre Lebensgrundlage vorgesorgt haben.
534    Ohne die biotechnologischen Möglichkeiten, die sich zum Beispiel für die
35 Pflanzenpathologie, Insektenkunde und Streßforschung bieten, gäbe es praktisch keine
36 Hoffnung für die Reisbauern und -konsumenten von morgen, vor allem nicht für jene, die
37 Hilfe am nötigsten haben: Die Armen in Asien.
638    Es ist ein schwerer Irrtum zu glauben, es sei im Zweifelsfal1 ethisch einfacher, zu
39 einer neuen Technologie nein zu sagen. Dieses Nein verweigert aber möglicherweise
40 Milliarden im nächsten Jahrhundert das menschliche Grundrecht schlechthin: nämlich das
41 Recht auf Nahrung.

Klaus Lampe, in: Süddeutsche Zeitung, 3.10.1992