1 | 1 | | Häufig können wir beobachten, wie kleine Kinder im Supermarkt im |
| 2 | | Einkaufswagen sitzen, den eigenen Ängsten in der fremden Menschen- und Warenmasse |
| 3 | | überlassen, während die Mutter immer wieder verschwindet, um neue Waren |
| 4 | | heranzuschaffen. Hilfeappelle des Kindes sind fruchtlos, werden höchstens mit |
| 5 | | zunehmender Nervosität der Mutter von dieser bestraft. Schließlich wird das nun |
| 6 | | weinende Kind mit Schokolade abgefertigt. |
2 | 7 | | Wir haben uns daran gewöhnt, daß diese kleinen »Tyrannen« in Situationen, die nun |
| 8 | | mal nicht zu umgehen sind, nicht »spuren«, nicht funktionieren und deshalb in ihre |
| 9 | | Schranken verwiesen werden müssen - auch wenn es »Theater« gibt. Es wird ihnen sonst |
| 10 | | ja jeder Wunsch von den Augen abgelesen, und irgendwann müssen sie es ja auch lernen, |
| 11 | | sich dem Normalleben anzupassen. |
3 | 12 | | Ich sehe das anders und will mich nicht daran gewöhnen: Hier wird der Supermarkt |
| 13 | | von einem Kind in diesem Alter als fremde Umgebung voller Menschen, deren Nähe es |
| 14 | | beunruhigt, erlebt. Die Nähe zu der einen Person, die es beruhigen könnte, fehlt ; die Mutter |
| 15 | | ist oft nicht sichtbar und dann nicht verfügbar. Die elementaren Hilferufe des Kindes in |
| 16 | | dieser verwirrenden und ängstigenden Situation werden nicht nur nicht gehört und nicht |
| 17 | | verstanden, sie werden bestraft und als wertlos erklärt. Die Grundbedürfnisse nach Kontakt |
| 18 | | mit einem vertrauten Menschen werden gerade in den Situationen verweigert, in denen ihre |
| 19 | | angemessene Befriedigung zur Bildung einer soliden Vertrauensbasis und zur Bewältigung |
| 20 | | des Alltags nötig wäre. Die deutlich geäußerten kindlichen Signale gehen ins Leere. Seine |
| 21 | | Angst zu offenbaren wird ihm sogar verwehrt. Ihm wird Ersatzbefriedigung angeboten: eine |
| 22 | | Packung Schokolade, nach der ursprünglich keinerlei Bedürfnis bestand. Das Kind lernt so, |
| 23 | | auf die Suche nach Ersatz zu gehen, da es seine wahren Wünsche und Bedürfnisse nicht |
| 24 | | äußern darf, geschweige denn erfüllt und gestillt bekommt. |
4 | 25 | | Dies ist ein Muster für eine allseits tolerierte Mißhandlung mit gravierenden |
| 26 | | Auswirkungen auf weite Lebensbereiche des Kindes und späteren Erwachsenen. Wir |
| 27 | | leben in einer Zeit und in einer Weltregion, die es uns ermöglichen, unsere Kinder |
| 28 | | materiell gut zu versorgen, ihnen eine differenzierte Erziehung zukommen zu lassen und |
| 29 | | sie weitgehend vor gesundheitlichen Risiken zu bewahren. Wir ermöglichen ihnen fast |
| 30 | | alles, sie haben es gut. Viele waren mit drei Jahren bereits am Meer, sind topmodisch |
| 31 | | angezogen, haben spätestens mit Schulbeginn einen eigenen Kassettenrecorder, ... Wir |
| 32 | | diskutieren darüber, wie viele Bezugspersonen auf den verschiedenen Altersstufen nötig |
| 33 | | sind, um das Kind »sozialkompetent« zu machen. Mit Sicherheit eine wichtige Frage. Aber |
| 34 | | die Antwort darauf bleibt eine leere Hülse, wenn die Bezugspersonen nicht bereit oder |
| 35 | | nicht in der Lage sind, in eine echte Beziehung mit dem Kind zu treten. |
5 | 36 | | Die Flexibilisierung der Arbeitswelt, die Schaffung differenzierter |
| 37 | | Teilzeitarbeitsverträge scheint mir die richtige Familienvorsorge zu sein; sie ist der |
| 38 | | Nachsorge in Form institutionalisierter Fremdbetreuung von Kleinkindern vorzuziehen, |
| 39 | | die Notfällen vorbehalten bleiben sollte. Wenn wir uns die Pflege des Kindes mit |
| 40 | | vertrauten Menschen teilen, bestenfalls mit dem Partner, mit Mitgliedern der eigenen |
| 41 | | Familie oder des Freundeskreises, gewinnen wir Zeit: Zeit für das Kind und Zeit für uns, |
| 42 | | die wir unseren Wünschen gemäß in der Familie oder im Beruf verbringen können. |