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Die alltägliche Mißhandlung

Die alltägliche Mißhandlung

11    Häufig können wir beobachten, wie kleine Kinder im Supermarkt im
2 Einkaufswagen sitzen, den eigenen Ängsten in der fremden Menschen- und Warenmasse
3 überlassen, während die Mutter immer wieder verschwindet, um neue Waren
4 heranzuschaffen. Hilfeappelle des Kindes sind fruchtlos, werden höchstens mit
5 zunehmender Nervosität der Mutter von dieser bestraft. Schließlich wird das nun
6 weinende Kind mit Schokolade abgefertigt.
27    Wir haben uns daran gewöhnt, daß diese kleinen »Tyrannen« in Situationen, die nun
8 mal nicht zu umgehen sind, nicht »spuren«, nicht funktionieren und deshalb in ihre
9 Schranken verwiesen werden müssen - auch wenn es »Theater« gibt. Es wird ihnen sonst
10 ja jeder Wunsch von den Augen abgelesen, und irgendwann müssen sie es ja auch lernen,
11 sich dem Normalleben anzupassen.
312    Ich sehe das anders und will mich nicht daran gewöhnen: Hier wird der Supermarkt
13 von einem Kind in diesem Alter als fremde Umgebung voller Menschen, deren Nähe es
14 beunruhigt, erlebt. Die Nähe zu der einen Person, die es beruhigen könnte, fehlt ; die Mutter
15 ist oft nicht sichtbar und dann nicht verfügbar. Die elementaren Hilferufe des Kindes in
16 dieser verwirrenden und ängstigenden Situation werden nicht nur nicht gehört und nicht
17 verstanden, sie werden bestraft und als wertlos erklärt. Die Grundbedürfnisse nach Kontakt
18 mit einem vertrauten Menschen werden gerade in den Situationen verweigert, in denen ihre
19 angemessene Befriedigung zur Bildung einer soliden Vertrauensbasis und zur Bewältigung
20 des Alltags nötig wäre. Die deutlich geäußerten kindlichen Signale gehen ins Leere. Seine
21 Angst zu offenbaren wird ihm sogar verwehrt. Ihm wird Ersatzbefriedigung angeboten: eine
22 Packung Schokolade, nach der ursprünglich keinerlei Bedürfnis bestand. Das Kind lernt so,
23 auf die Suche nach Ersatz zu gehen, da es seine wahren Wünsche und Bedürfnisse nicht
24 äußern darf, geschweige denn erfüllt und gestillt bekommt.
425    Dies ist ein Muster für eine allseits tolerierte Mißhandlung mit gravierenden
26 Auswirkungen auf weite Lebensbereiche des Kindes und späteren Erwachsenen. Wir
27 leben in einer Zeit und in einer Weltregion, die es uns ermöglichen, unsere Kinder
28 materiell gut zu versorgen, ihnen eine differenzierte Erziehung zukommen zu lassen und
29 sie weitgehend vor gesundheitlichen Risiken zu bewahren. Wir ermöglichen ihnen fast
30 alles, sie haben es gut. Viele waren mit drei Jahren bereits am Meer, sind topmodisch
31 angezogen, haben spätestens mit Schulbeginn einen eigenen Kassettenrecorder, ... Wir
32 diskutieren darüber, wie viele Bezugspersonen auf den verschiedenen Altersstufen nötig
33 sind, um das Kind »sozialkompetent« zu machen. Mit Sicherheit eine wichtige Frage. Aber
34 die Antwort darauf bleibt eine leere Hülse, wenn die Bezugspersonen nicht bereit oder
35 nicht in der Lage sind, in eine echte Beziehung mit dem Kind zu treten.
536    Die Flexibilisierung der Arbeitswelt, die Schaffung differenzierter
37 Teilzeitarbeitsverträge scheint mir die richtige Familienvorsorge zu sein; sie ist der
38 Nachsorge in Form institutionalisierter Fremdbetreuung von Kleinkindern vorzuziehen,
39 die Notfällen vorbehalten bleiben sollte. Wenn wir uns die Pflege des Kindes mit
40 vertrauten Menschen teilen, bestenfalls mit dem Partner, mit Mitgliedern der eigenen
41 Familie oder des Freundeskreises, gewinnen wir Zeit: Zeit für das Kind und Zeit für uns,
42 die wir unseren Wünschen gemäß in der Familie oder im Beruf verbringen können.

Gabriele Haug, in: Neue Zürcher Zeitung, 18.119.11.1989