1 | 1 | | Hurra - unsere Lebenserwartung ist die höchste aller Zeiten! Seit 1950 hat sich das |
| 2 | | Durchschnittsalter beider Geschlechter um stolze sieben Jahre auf 74 erhöht. Ein |
| 3 | | unvergleichlicher Triumph der modernen Medizin. |
2 | 4 | | So lesen wir es allenthalben. Und deshalb gibt es immer noch eine Menge Leute, die |
| 5 | | sich vormachen, daß man Gesundheit in der Apotheke und in der Klinik kaufen könne. |
| 6 | | Nur leider haben sie zwei Gesichtspunkte nicht berücksichtigt: Erstens überschätzen wir |
| 7 | | auf Grund solcher Zahlenspielereien die Leistungsfähigkeit der Apparatemedizin. Und |
| 8 | | zweitens können wir sie uns schon längst nicht mehr leisten. |
3 | 9 | | Natürlich haben wir eine vorbildliche Notfallmedizin - man braucht nur die |
| 10 | | Unfallchirurgie herauszugreifen: Was da an zerfetzten Menschenleibern zusammengeflickt |
| 11 | | wird, kann nur unter dem Begriff »das tägliche Wunder« zusammengefaßt werden. |
4 | 12 | | Sosehr wir also für den Notfall gerüstet sind, sowenig werden wir aber mit den |
| 13 | | chronischen Krankheiten fertig. Und Herzinfarkt und Schlaganfall werden sogar auf |
| 14 | | Fachkongressen als »Blamage der Medizin« bezeichnet; die Krebsbehandlung gilt als |
| 15 | | »experimentelle Therapie« - als Behandlung im Versuchsstadium. Nicht anders steht es |
| 16 | | mit weiteren modernen Epidemien. |
5 | 17 | | In Ermangelung einer »Heilmedizin« für die langwierigen Leiden haben wir die |
| 18 | | Praktiken der Notfallmedizin auf dieses Gebiet übertragen. Organtransplantationen, |
| 19 | | Leben mit Maschinen, aufwendige Ersatzteile sind für eine Massenmedizin aber |
| 20 | | untauglich. Eine Forschung, die sich in erster Linie an solch einer Prothesenmedizin |
| 21 | | orientiert, muß zwangsläufig in die Pleite führen. 250 Milliarden Mark verschlingt unser |
| 22 | | Krankheitswesen heute bereits pro Jahr, rund 700 Millionen jeden Tag. Wer soll das in |
| 23 | | Zukunft bezahlen? |
6 | 24 | | Vor allem aber: Was hat uns diese Kostenexplosion eingebracht? Hinterfragen wir |
| 25 | | doch einmal die Statistik der gestiegenen Lebenserwartung. Korrekt heißt es: mittlere |
| 26 | | Lebenserwartung, weil ja der Mittelwert aus dem Alter aller Verstorbenen berechnet wird. |
| 27 | | Wenn man nun behauptet, daß dieser Durchschnittswert doppelt so hoch ist wie vor 100 |
| 28 | | Jahren, dann ist das zwar richtig - und doch eine Täuschung. |
7 | 29 | | Denn im vorigen Jahrhundert betrug die Säuglingssterblichkeit noch 26 Prozent, im |
| 30 | | Vergleich zu etwa einem Prozent heute. Wenn aber ein Viertel der Neugeborenen schon |
| 31 | | kurz nach der Geburt stirbt, sinkt das Durchschnittsalter ganz erheblich ab. Zieht man nun |
| 32 | | zum Vergleich diejenigen ab, die nicht überlebt haben, dann sieht es gleich anders aus: |
| 33 | | »Der tatsächliche Zuwachs an Lebenserwartung bei 30-50 jährigen beträgt nicht mehr als |
| 34 | | vier bis sieben Jahre«, erläutert die Sozialmedizinerin Prof Maria Blohmke. |
8 | 35 | | Ein Großteil der Menschen ist früher genauso alt geworden wie heute. Am |
| 36 | | vorzeitigen Tod der übrigen war vor allem die Säuglingssterblichkeit schuld. Und die |
| 37 | | restlichen gewonnenen Jahre gehen vor allem auf das Konto der Ausrottung infektiöser |
| 38 | | Seuchen. Hygiene und verbesserte Lebensbedingungen waren es vor allem, die einen |
| 39 | | sprunghaften Anstieg der Lebenserwartung einleiteten. |
9 | 40 | | Wie die Statistiken ausweisen, datiert dieser Anstieg vom Beginn unseres |
| 41 | | Jahrhunderts - also noch vor dem großen Aufschwung von Medizintechnik und |
| 42 | | Pharmazie. Deshalb muß der eigentliche Maßstab nicht die Lebenserwartung, sondern der |
| 43 | | allgemeine Gesundheitszustand sein. Dieser ist aber eher betrüblich: Jeder sechste ist |
| 44 | | krank, und die Leute zweifeln daran, daß wir gesünder sind als unsere Eltern oder |
| 45 | | Großeltern. |
10 | 46 | | Zwar sehen Meinungsforscher eine »Renaissance der Naturheilkunde«. Eine |
| 47 | | Heilmedizin, die Krankheitsursachen ergründet und den Anfängen chronischer |
| 48 | | Krankheiten wehrt, verlangt jedoch die Mitarbeit des Betroffenen. Der Weg zu |
| 49 | | Gesundheit und Wohlbefinden ist meist mühsam. Voraussetzung ist die Erkenntnis: Wir |
| 50 | | haben keinen Anspruch auf geschenkte Gesundheit und erhalten sie nicht auf Rezept. |