1 | 1 | | Wer sieht schon in aller Herrgottsfrühe, von 6 bis 9 Uhr morgens, fern? Die |
| 2 | | Nachteulen schlafen um diese Zeit, die Frühaufsteher sind unterwegs zum Bus oder schon |
| 3 | | im Büro. Es bleiben die Hausfrauen, Rentner, Abendschichtler. Für diese Gruppe bietet |
| 4 | | der kleine Berliner Sender Rias-TV ein »Frühstücksfernsehen« an , das derzeit bundesweit |
| 5 | | im Ersten und Zweiten zu besichtigen ist. Der Probelauf soll bis Dezember dauern. Lockt |
| 6 | | die Morgenschau genügend Zuschauer an, wird man zur Serienfertigung schreiten. |
2 | 7 | | Frühstücksfernsehen, wie immer es gemacht ist, markiert einen Wendepunkt im |
| 8 | | Fernsehwesen. Daß sich die Oma für drei Stunden vors Gerät hockt und alle dreißig |
| 9 | | Minuten dieselben Nachrichten, Sportberichte, Wettervorhersagen, die Presseschau und |
| 10 | | die Zeitangaben über sich ergehen läßt, ist nicht die Idee. Vielmehr soll die gute Frau, wie |
| 11 | | der Name der Sendung schon sagt, Kaffee kochen, Brat rösten, Spiegeleier braten, die |
| 12 | | Zeitung hereinholen, den Postboten grüßen, mit dem Nachbarn telephonieren und den |
| 13 | | Dackel füttern - und das alles, während die Glotze läuft. Das Programmkonzept |
| 14 | | »Frühstücksfernsehen« setzt den von der Mattscheibe emanzipierten Verbraucher voraus, |
| 15 | | der die Sendung im wesentlichen als akustische Hintergrundunruhe konsumiert und das |
| 16 | | optische Angebot nur noch auszugsweise per Seitenblick mitnimmt. |
3 | 17 | | Das ist nicht ganz neu, da beispielsweise in Amerika längst gängig, es ist für das |
| 18 | | deutsche Fernsehgemüt jedoch ungewohnt. Fernsehen verlangte üblicherweise die ganze |
| 19 | | Aufmerksamkeit, wer glotzte, versank. Fernbedienung und Programmflut lockerten den |
| 20 | | Bann, das Frühstücksfernsehen bricht ihn. Bislang nahm man beim Fernsehen Häppchen |
| 21 | | zu sich, in Zukunft wird es das Fernsehen sein, aus dem der Zuschauer sich ab und an ein |
| 22 | | Häppchen gönnt. |
4 | 23 | | Dabei ist das Frühstücksprogramm von Rias-TV so sauber gemacht und so nett |
| 24 | | präsentiert, daß man es schlankweg nonstop in sich hineingucken könnte, wenn nicht die |
| 25 | | (unumgänglichen) Wiederholungen auf der Nachrichten- und Wetter-Schiene einen daran |
| 26 | | gemahnten, daß dies das neue, das Häppchen- und Hintergrundfernsehen ist, welches den |
| 27 | | Zuschauer voraussetzt, der Besseres zu tun hat als fernzusehen. Doch sind die |
| 28 | | Moderatorinnen Nina Ruge und Antje Garden so hübsch, daß das Weggucken, sprich |
| 29 | | Eierbraten und Dackelfüttern, während sie sprechen, nicht leichtfällt, aber wir üben halt |
| 30 | | noch. |
5 | 31 | | Die kleinen hausgemachten Reportagen über, je nach Tageslage, den |
| 32 | | Weltraumkongreß von Dresden, den Wahlkampf in Sachsen-Anhalt, die deutsch- |
| 33 | | amerikanische Feundschaft in Washington und die Atomkraftwerke der Tschechoslowakei |
| 34 | | sind knapp und doch nicht hastig, bunt und doch nicht beliebig. Ist man frühmorgens |
| 35 | | weniger kritisch als nach des Tages Plage? Mir kam es so vor, als ob die Rias-Studio- |
| 36 | | Interviews mit Prominenz aus Ost und West weniger heiße Luft und mehr Dampf zustande |
| 37 | | brächten als sonst im deutschen Fernsehen die Regel. |