1 | 1 | | Offiziell wird die Vereinigung Deutschlands von fast allen begrüßt. Aber heimlich |
| 2 | | haben im Ausland und vor allem bei unseren Nachbarn viele Menschen Angst. |
| 3 | | Gelegentlich spricht einer es offen aus wie der deswegen zurückgetretene britische |
| 4 | | Handelsminister Nicholas Ridley. Die meisten warten jedoch schweigend ab und |
| 5 | | beobachten mißtrauisch, wie die Deutschen sich verhalten. |
2 | 6 | | Zu den Ausnahmen, die offen aussprechen, daß und wovor sie sich fürchten, gehört |
| 7 | | der seit drei Jahrzehnten in der Bundesrepublik lebende spanische Schriftsteller Heleno |
| 8 | | Saña. In seinem Buch unter dem ominösen Titel »Das Vierte Reich« warnt er vor einem |
| 9 | | neuen Versuch der Deutschen, diesmal unter der Parole »Europa«, den Kontinent zu |
| 10 | | germanisieren. Nicht durch militärische Überfälle, Krieg und Gewalt, sondern jetzt durch |
| 11 | | finanziellen Druck, mit Hilfe wissenschaftlicher Überlegenheit, durch einen, wie der |
| 12 | | Verfasser es nennt, »ökonomischen Imperialismus«, |
3 | 13 | | Der 1930 in Barcelona als Sohn eines erbitterten Franco-Gegners geborene |
| 14 | | Sozialhistoriker ist dabei ein Bewunderer der deutschen Kultur. Er hat Werke von Max |
| 15 | | Frisch, Günter Grass, Martin Walser und Heinar Kipphardt ins Spanische übersetzt, |
| 16 | | berichtet regelmäßig in spanischen und lateinamerikanischen Zeitschriften über das Land, |
| 17 | | das er immerhin zu seiner Wahlheimat erkoren hat. Aber er fürchtet sich vor den |
| 18 | | Deutschen, wenn sie sich politisch betätigen, weil ihnen, wie er behauptet, die Fähigkeit |
| 19 | | und Bereitschaft zur Selbsterkenntnis fehlt. |
4 | 20 | | Die Gründe für die Angst Sañas und vieler anderer Ausländer vor den Deutschen |
| 21 | | sind vornehmlich Eigenschaften, die von den Gefürchteten selbst meist als Tugenden |
| 22 | | gewertet werden: Fleiß und Tüchtigkeit, Ordnungsliebe und Leistungswillen, vor allem |
| 23 | | aber die Bewunderung der Macht, die vielen von ihnen wichtiger erscheint als privates |
| 24 | | oder persönliches Glück. Hier liegt nach seiner Meinung eine der Hauptursachen für die |
| 25 | | »Gefährlichkeit« der deutschen Nation: in ihrem Bedürfnis zu bestimmen, zu regieren und |
| 26 | | das anzuordnen, was ihnen richtig erscheint. |
5 | 27 | | Ursache dafür sei - wie Saña schon in seinem Buch »Die verklemmte Nation« |
| 28 | | ausführte - ein unausrottbarer Hang zum Perfektionismus und, daraus resultierend, das |
| 29 | | Bedürfnis, andere ständig zu belehren und ihnen vorzuschreiben, wie sie sich zu verhalten |
| 30 | | haben. In jedem zweiten Deutschen steckt nach Sañas Ansicht ein verhinderter |
| 31 | | Oberlehrer. Ein unordentliches oder gar unsauberes Europa wäre für sie daher |
| 32 | | unerträglich. Und dieser Ordnungsfanatismus machte für weniger ordnungssüchtige |
| 33 | | Nachbarvölker ein Leben unter deutscher Vormundschaft nur schwer erträglich. |
6 | 34 | | Der Autor hat, wie er in seinem Vorwort zugibt, dieses Buch aus einem tiefen |
| 35 | | »Mißtrauen gegenüber jenen Deutschen« geschrieben, »die nicht bereit oder imstande |
| 36 | | sind, aus der Erfahrung der unheilvollen Vergangenheit zu lernen, und die den Eindruck |
| 37 | | erwecken, sie wären geneigt, die Fehler zu wiederholen«, |
7 | 38 | | Aus diesem Mißtrauen heraus überzeichnet Saña allerdings manche seiner Thesen. |
| 39 | | So ist der Leistungsfetischismus, den er den Deutschen zuschreibt, sicherlich eine |
| 40 | | Eigenschaft, die man bei den Jüngeren kaum mehr in gleichem Maße findet wie in der |
| 41 | | älteren Generation. Auch der unbedingte Gehorsam gegenüber der Obrigkeit hat erfreulicherweise |
| 42 | | - bei den Jüngeren erheblich nachgelassen. Sogar im deutschen Militär |
| 43 | | zeigen sich heute beeindruckende Fälle von Zivilcourage. |
8 | 44 | | Die Überzeichnung ist bedauerlich. Sañas Buch wird ohnehin bei vielen deutschen |
| 45 | | Lesern einen Aufschrei der Empörung auslösen. Der Bundeskanzler hat Hinweise auf ein |
| 46 | | zu befürchtendes »Viertes Reich« bereits als »Diffamierung Deutschlands« bezeichnet. |
| 47 | | Und Ängste der Nachbarn vor einem deutschen Achtzig-Millionen-Staat werden von |
| 48 | | vielen Bundesbürgern als »Beleidigung« empfunden, weil es Gründe für solche Ängste |
| 49 | | heute einfach nicht gebe. So werden also die Ängste vor einem deutschen Revanchismus |
| 50 | | entweder nicht wahrgenommen oder als »Unterstellung« weggewischt. Sie lassen sich aber |
| 51 | | nicht dadurch aus der Welt schaffen, daß man sie nur für dumm und unbegründet erklärt. |
| 52 | | Sondern sie müssen durch ein anderes Verhalten widerlegt werden. Um das zu können, |
| 53 | | muß man sie ab er kennen. Und deshalb ist dieses Buch lesenswert, auch wenn es viele |
| 54 | | Leser ärgert. |