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Furcht vor Deutschen

Furcht vor Deutschen

Peter Grubbe bespricht Heleno Sañas Buch »Das Vierte Reich«,

11    Offiziell wird die Vereinigung Deutschlands von fast allen begrüßt. Aber heimlich
2 haben im Ausland und vor allem bei unseren Nachbarn viele Menschen Angst.
3 Gelegentlich spricht einer es offen aus wie der deswegen zurückgetretene britische
4 Handelsminister Nicholas Ridley. Die meisten warten jedoch schweigend ab und
5 beobachten mißtrauisch, wie die Deutschen sich verhalten.
26    Zu den Ausnahmen, die offen aussprechen, daß und wovor sie sich fürchten, gehört
7 der seit drei Jahrzehnten in der Bundesrepublik lebende spanische Schriftsteller Heleno
8 Saña. In seinem Buch unter dem ominösen Titel »Das Vierte Reich« warnt er vor einem
9 neuen Versuch der Deutschen, diesmal unter der Parole »Europa«, den Kontinent zu
10 germanisieren. Nicht durch militärische Überfälle, Krieg und Gewalt, sondern jetzt durch
11 finanziellen Druck, mit Hilfe wissenschaftlicher Überlegenheit, durch einen, wie der
12 Verfasser es nennt, »ökonomischen Imperialismus«,
313    Der 1930 in Barcelona als Sohn eines erbitterten Franco-Gegners geborene
14 Sozialhistoriker ist dabei ein Bewunderer der deutschen Kultur. Er hat Werke von Max
15 Frisch, Günter Grass, Martin Walser und Heinar Kipphardt ins Spanische übersetzt,
16 berichtet regelmäßig in spanischen und lateinamerikanischen Zeitschriften über das Land,
17 das er immerhin zu seiner Wahlheimat erkoren hat. Aber er fürchtet sich vor den
18 Deutschen, wenn sie sich politisch betätigen, weil ihnen, wie er behauptet, die Fähigkeit
19 und Bereitschaft zur Selbsterkenntnis fehlt.
420    Die Gründe für die Angst Sañas und vieler anderer Ausländer vor den Deutschen
21 sind vornehmlich Eigenschaften, die von den Gefürchteten selbst meist als Tugenden
22 gewertet werden: Fleiß und Tüchtigkeit, Ordnungsliebe und Leistungswillen, vor allem
23 aber die Bewunderung der Macht, die vielen von ihnen wichtiger erscheint als privates
24 oder persönliches Glück. Hier liegt nach seiner Meinung eine der Hauptursachen für die
25 »Gefährlichkeit« der deutschen Nation: in ihrem Bedürfnis zu bestimmen, zu regieren und
26 das anzuordnen, was ihnen richtig erscheint.
527    Ursache dafür sei - wie Saña schon in seinem Buch »Die verklemmte Nation«
28 ausführte - ein unausrottbarer Hang zum Perfektionismus und, daraus resultierend, das
29 Bedürfnis, andere ständig zu belehren und ihnen vorzuschreiben, wie sie sich zu verhalten
30 haben. In jedem zweiten Deutschen steckt nach Sañas Ansicht ein verhinderter
31 Oberlehrer. Ein unordentliches oder gar unsauberes Europa wäre für sie daher
32 unerträglich. Und dieser Ordnungsfanatismus machte für weniger ordnungssüchtige
33 Nachbarvölker ein Leben unter deutscher Vormundschaft nur schwer erträglich.
634    Der Autor hat, wie er in seinem Vorwort zugibt, dieses Buch aus einem tiefen
35 »Mißtrauen gegenüber jenen Deutschen« geschrieben, »die nicht bereit oder imstande
36 sind, aus der Erfahrung der unheilvollen Vergangenheit zu lernen, und die den Eindruck
37 erwecken, sie wären geneigt, die Fehler zu wiederholen«,
738    Aus diesem Mißtrauen heraus überzeichnet Saña allerdings manche seiner Thesen.
39 So ist der Leistungsfetischismus, den er den Deutschen zuschreibt, sicherlich eine
40 Eigenschaft, die man bei den Jüngeren kaum mehr in gleichem Maße findet wie in der
41 älteren Generation. Auch der unbedingte Gehorsam gegenüber der Obrigkeit hat erfreulicherweise
42 - bei den Jüngeren erheblich nachgelassen. Sogar im deutschen Militär
43 zeigen sich heute beeindruckende Fälle von Zivilcourage.
844    Die Überzeichnung ist bedauerlich. Sañas Buch wird ohnehin bei vielen deutschen
45 Lesern einen Aufschrei der Empörung auslösen. Der Bundeskanzler hat Hinweise auf ein
46 zu befürchtendes »Viertes Reich« bereits als »Diffamierung Deutschlands« bezeichnet.
47 Und Ängste der Nachbarn vor einem deutschen Achtzig-Millionen-Staat werden von
48 vielen Bundesbürgern als »Beleidigung« empfunden, weil es Gründe für solche Ängste
49 heute einfach nicht gebe. So werden also die Ängste vor einem deutschen Revanchismus
50 entweder nicht wahrgenommen oder als »Unterstellung« weggewischt. Sie lassen sich aber
51 nicht dadurch aus der Welt schaffen, daß man sie nur für dumm und unbegründet erklärt.
52 Sondern sie müssen durch ein anderes Verhalten widerlegt werden. Um das zu können,
53 muß man sie ab er kennen. Und deshalb ist dieses Buch lesenswert, auch wenn es viele
54 Leser ärgert.

Die Zeit, 11.10.1990