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Der tägliche Mord an der Nordsee

Der tägliche Mord an der Nordsee

11    Algenteppiche in der Nordsee, unter denen massenhaft Fische verenden, und an
2 den Stränden sterbende Robben, deren Todeskampf das Fernsehen bis weit in die Alpen
3 verbreitet - einen Monat vor Beginn der Urlaubswelle hat die gequälte Natur mit der
4 jährlichen Katastrophe reagiert.
25    Nichts an dieser Katastrophe von 1988 ist überraschend. Wir alle hätten wissen
6 können, was da auf uns zukommt. Aber wir taten es den drei berühmten Affen nach, die
7 nichts hören, nichts sehen, nichts sagen wollen; sie sind zum Leitbild der Ökologie
8 geworden. Ehe die Nordsee krank wurde, gab es schon Waldsterben und Sauren Regen,
9 Formaldehyd, Sandoz, Tschernobyl, das Ozonloch, den Treibhauseffekt durch
10 Kohlendioxyd, verseuchte Siedlungen auf Giftmülldeponien. An Warnungen hat es nicht
11 gefehlt, doch sie fruchteten wenig. Sie gaben jedesmal den Anstoß zu kurzatmiger
12 Geschäftigkeit; manchmal raffte sich die Obrigkeit auch zu ernsthafteren Anstrengungen
13 auf. Aber der entscheidende Schritt zu einer stetigen Politik, die Grundlagen unseres
14 Lebens und Wirtschaftens auf Dauer zu sichern, ist ausgeblieben.
315    Die sterile Geschäftigkeit hat auch diesmal sogleich eingesetzt: Forderungen
16 werden erhoben, Konferenzen angemahnt, Forschungsmittel eingeklagt für den einen,
17 Investitionszuschüsse für den anderen. Wenn alles so weiterläuft wie bisher, wird sich
18 gegen Ende der Feriensaison die Aufregung wieder einmal gelegt haben, ohne daß
19 Entscheidendes geschehen ist.
420    Solange Politik und Öffentlichkeit nicht aus diesem Zyklus von Aufregung und
21 Gleichgültigkeit ausbrechen, hat eine Ökologie, die auch unseren Enkeln eine vernünftige
22 Ökonomie sichern will, keine Chance. In der Schöpfungsgeschichte heißt es, der Mensch
23 solle sich die Erde untertan machen; sie zu zerstören, liegt nicht in seiner Befugnis. Aber
24 eben das tun wir, indem wir Luft, Boden und Wasser sträflich belasten. Von diesen drei
25 Elementen lebt der Mensch, die sogenannte Krone der Schöpfung. Die verdreckte
26 Nordsee ist nur ein Symptom dafür, wie wir selbstmörderisch mit unseren
27 Lebensgrundlagen umgehen.
528    Diese Behauptung löst reflexhaft drei Erwiderungen aus. Erstens: Panikmache sei
29 nicht hilfreich - ab er wie anders läßt sich heute noch Einsicht provozieren ?
30 Zweitens: Es werde doch schon viel unternommen, um das nordeuropäische Hausmeer,
31 besser: die Müllkippe und Jauchegrube Nordeuropas, zu entlasten - aber offenkundig ist
32 es viel zu wenig. Drittens: Die Einführung von Kläranlagen, Filtern oder neuen
33 abfallarmen Produktionstechniken brauche Zeit - dabei beweist die jüngste Katastrophe
34 nur zu deutlich, daß der technische Umweltschutz, die nachträgliche Minderung der
35 Schäden, unzulänglich bleibt; daß Vorbeugen auch hier besser ist als Heilen; daß wir auf
36 Abfallvermeidung statt Abfallbeseitigung umstellen müssen.
637    Wer umdenken und umsteuern will, der findet an der Nordsee viel zu tun. In ihr
38 sammelt sich vor allem an, was die»Vorfluter«, wie die Experten unsere Flüsse nennen,
39 dort hinschleppen, von dem Dreck einmal abgesehen, den wir per Schiff ins Meer
40 schaffen. Drei Schritte sind nötig: Verzicht auf Scheinargumente, schärfere Gesetze und
41 ein gesellschaftlicher Bewußtseinswandel,
742    Es gilt erstens Abschied zu nehmen von dem Standardargument, von der
43 Standardausrede, ohne vorherige Absprache mit allen Anliegerstaaten könne für die
44 europäischen Randmeere nichts getan werden. Seit 20 Jahren reden und verhandeln die
45 Regierungen - getan wurde wenig. Im Prinzip sind sich diese Staaten in markigen
46 Absichtserklärungen einig, im Alltag haben noch immer nationale Egoismen und
47 kurzfristige Interessen gesiegt.
848    Zweitens: Nur eine Politik, die langfristige Sicherheitserwägungen über kurzfristige
49 Gewinnüberlegung setzt, bringt die richtigen Gesetze zustande. Das heißt in diesem
50 Falle: Die Verklappung" von Chemieabfällen wird generell verboten und übergangsweise
51 nur noch jenen Unternehmen gestattet, die nachweisen, daß sie bereits ihre Produktion
52 umstellen oder Rückhalteanlagen bauen, deren Abfall keine Gefahr für die Umwelt
53 bedeutet. Die Verbrennung von Giftmüll auf See wird nur denen noch befristet erlaubt,
54 die nachweisbar an der künftigen Vermeidung des Abfalls arbeiten. Im übrigen muß jede
55 Abfallbeseitigung über die Flüsse ins Meer im Preis so hoch gesetzt werden, daß es für
56 jeden Produzenten wirtschaftlich zwingend wird, die Gewässer zu schonen.
957    Drittens: Der Katalog all dieser Maßnahmen, den Wirtschaft, Gewerkschaften und
58 Politiker ohnehin schon als Horrorliste verteufeln werden, enthält freilich nur
59 Minimalforderungen. Aber auch ihre Wirkung müßte verpuffen ohne eine gründliche
60 Aufklärungskampagne, die jedem einzelnen Bürger hilft, sein Verhalten zu ändern.
61 Sechzig Millionen Bürger können viel tun, die Flüsse und die Nordsee zu entlasten. Aber
62 dazu brauchen sie direkte Anleitungen. Welches Waschmittel ist denn, um ein simples
63 Beispiel zu benutzen, umweltfreundlich(er)? Muß denn vergleichende Werbung mit
64 solchen Hinweisen verboten bleiben? Verbraucherorganisationen müssen ihre Aktivität
65 verstärken; dazu müssen sie vor willkürlichen und ruinösen Klagen wegen
66 Geschäftsschädigung geschützt werden.
1067    Die Robben sterben schneller, als sich die Nordsee retten läßt, Produzenten und
68 Verbraucher haben zu lange gesündigt, als daß sich rasch Abhilfe schaffen ließe. Wenn es
69 um Megachips oder Glasfaserkabel geht, nimmt jeder unbefangen das Wort von der
70 industriellen Revolution in den Mund. Wenn gleichermaßen hartnäckige und weitsichtige
71 Idealisten wie etwa die Greenpeace-Mitglieder sie fordern, allerdings in anderer
72 Richtung, auf daß unsere Umwelt geschont werde , dann lacht noch mancher hohn, als
73 ginge es darum, die Industriegesellschaft in kienspanerleuchtete Höhlen zurückzutreiben.

Die Zeit, 10.6.1988