1 | 1 | | Da kommen jetzt die Leute vom Urlaub zurück, braungebrannt und erlebnissatt, |
| 2 | | und erzählen, wie herrlich es war. Hände reibend und listig fügen sie hinzu, dass sie bei |
| 3 | | ihrer Abreise schon im gleichen Ort ihren Ferienaufenthalt für das kommende Jahr |
| 4 | | gebucht hätten. Diese beneidenswert Glücklichen! Man kann sie nur bewundern. Sie |
| 5 | | haben ein Jahr der Erinnerung an eine köstliche Zeit und der Vorfreude auf die |
| 6 | | Wiederholung vor sich, Menschen von Charakter, entscheidungsfrohe Persönlichkeiten, |
| 7 | | nicht solche flatterhaften Gesellen, die den Zwiespalt in der Brust tragen und von |
| 8 | | quälenden Zweifeln befallen sind, was nun eigentlich ihr schönster Urlaub ist: die |
| 9 | | jährliche Wiederkehr des Vertrauten oder der ständige Aufbruch zu neuen, nie gesehenen |
| 10 | | Regionen. |
2 | 11 | | Es ist doch schon eine seltsame Sache. Da liest man, wie der Bürgermeister eines |
| 12 | | Ferienortes Ehrenurkunde und Silbermedaille dem getreuen Ehepaar feierlich überreicht, |
| 13 | | das zum fünfundzwanzigsten Male in seine Gemeinde kommt. Und im Hause erfährt |
| 14 | | man, dass die Familie im zweiten Stock im gleichen Zeitraum von fünfundzwanzig Jahren |
| 15 | | jedes Mal ein anderes Ziel aufsuchte und sich gar nicht vorzustellen vermag, jeweils in |
| 16 | | die Gegend früherer Urlaubsaufenthalte zurückzukehren. Die Beharrlichen, Sesshaften, |
| 17 | | Treuen und die Vaganten, Zugvögel, Ungetreuen - ich kann sie beide nur bestaunen. Sie |
| 18 | | haben die Gabe, genau zu wissen, was sie wollen, wenn man sie fragt, was sie glücklich |
| 19 | | macht. Sie kennen sich selbst - welch Zustand klassischer Weisheit. Und sicherlich würde |
| 20 | | ein Lottogewinn von einer Million sie nicht aus der Bahn werfen. |
3 | 21 | | Wir anderen aber, wir schwankenden Rohre im Wind der Reiseverlockungen, |
| 22 | | werden jedes mal ob solcher Entschlusskraft von Neid erfüllt. Warum nur ist es uns nicht |
| 23 | | gegeben, die ewige Planerei, dieses zögernde Wägen zwischen bekanntem und erprobtem |
| 24 | | Ziel und unbekannter Ferne abzulegen. Sollen wir hierhin fahren oder nicht lieber |
| 25 | | dorthin? Warum entscheiden wir uns für die Unwägbarkeiten einer Vagabundenfahrt |
| 26 | | ohne gebuchte Quartiere, wenn uns die geruhsamen Wanderwochen mit der bequemen |
| 27 | | Unterkunft im Schwarzwald voriges Jahr so gutgetan haben? Eine Frage, die den |
| 28 | | Gefestigten bei ihren Urlaubsvorstellungen niemals in den Sinn kommen mag. |
4 | 29 | | Manchmal blättern wir bei den großen Reisenden nach, bei den viel erfahrenen |
| 30 | | Dichtern oder gar bei den Urlaubsforschern, die nach Motiven suchen für die Lust der |
| 31 | | Menschen zu reisen. Es ist da viel Kluges zu lesen, Antworten auf unsere zweifelnden |
| 32 | | Fragen, von denen sicherlich auch Goethe befallen wurde, als er aus den so oft besuchten |
| 33 | | böhmischen Bädern ins Unbekannte, zu einer langen Italien-Reise aufbrach. Vielleicht |
| 34 | | führen sie alle auf eine schlichte Grunderkenntnis zurück: dass nämlich in uns Menschen |
| 35 | | der sogenannten aufgeklärten Moderne noch vieles aus archaisch-primitiven Urzeiten |
| 36 | | fortleben muss, Züge des Nomaden, die Lust des Herumstreifens, die Freude daran, die |
| 37 | | Welt hinter den Bergen zu entdecken, und die Sehnsucht nach Sesshaftigkeit, der Drang, |
| 38 | | das Haus zu bauen und an Ort und Stelle zu bleiben, im Heimatlichen. Aber während wir |
| 39 | | so darüber grübeln, gerät das Nachdenken über unsere Urlaubszerrissenheit in eine |
| 40 | | Thematik, für die seit je die Psychologie zuständig ist. Wir können dann zwar tiefsinnige |
| 41 | | Überlegungen und vielleicht auch Thesen erwarten, doch leider keine Erlösung aus |
| 42 | | unserer jährlichen Unentschlossenheit. |