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Hungrige Provinz

11    Die Pfingst-Krawalle an der Mauer machten deutlich: Popmusik ist ein
2 wesentlicher Fluchthelfer au s dem Alltagsfrust der DDR-Jugend.
23    »Was die hier singen, das ist lachhaft«, erläutert ein 23jähriger Werkzeugmacher
4 aus der DDR-Provinz sein Verhältnis zur offiziellen Rockmusik des Staates, in dem er
5 lebt und arbeitet. »Da singen sie von so einem Kram, das betrifft mich nicht. Das ist, als
6 wenn das einer schreibt für alle, ein einziges Blabla.«
37    So gründlich er die von Staats wegen der DDR-Jugend zugeteilte Rockmusik
8 verachtet, so glühend und kritiklos himmelt der Fan aus Thüringen alles an, was aus dem
9 Westen zu seinen Ohren vordringt.
410    »Um zehn vor vier ist Feierabend, und dann ist Schluss. Was rundherum passiert,
11 interessiert uns nicht. Das kotzt einen alles an.« Der Proletarier aus der
12 DDR-Provinzkleinstadt ist restlos abgetörnt vom Arbeiter-und-Bauern-Staat. Er gehört zu
13 einer wachsenden Zahl Jugendlicher, die im Verhalten staatlicher Funktionsträger nur
14 noch Verlogenheit und Heuchelei erkennen: »Politiker reden in der Öffentlichkeit vom
15 Sozialismus und leben wie Kapitalisten.«
516    Rockmusik, Fußball, das Westfernsehen und Westradio, Bier und Schnaps sind die
17 Fluchthelfer aus dem Alltagsfrust. »Wenn wir das Westfernsehen nicht hätten, lebten wir
18 am Arsch der Welt, und wenn's keinen Alkohol gäbe, was meinst du, was hier los wäre«,
19 flucht der junge Malocher.
620    Solchen Typen hat der DDR-Rock nichts zu bieten. Musik von den verdienten
21 Bands des Staates, von den Puhdys und Karat, von City, Silly oder Pankow, die alle als
22 der verlängerte Arm einer Kulturbürokratie gelten, wird der Jugend als ein Ventil
23 offeriert. Diese Kapellen, seit Jahren die Säulen der offiziellen Szene und mit National-
24 und Kunstpreisen geehrt, taugen nichts als Idole.
725    Natürlich ist den DDR-Kulturpolitikern diese fast hysterische Begeisterung viel er
26 Jugendlicher für die westliche Pop-Traumwelt nicht verborgen geblieben. Und mehr
27 schlecht als recht versucht der VEB¹ Deutsche Schallplatten durch sein Pop-Label
28 »Amiga« die allgegenwärtige Nachfrage nach Westmusik zu befriedigen. Der Heißhunger
29 der Fans bleibt aber weiter ungestillt.
830    Mit großer zeitlicher Verzögerung, aber immerhin, ist die Musik so etablierter
31 internationaler Bands wie Rolling Stones, Beatles oder Santana in die volkseigenen
32 Plattenläden gekommen - allerdings in viel zu kleinen Auflagen.
933    Dabei vollzieht sich die Verteilung solcher akustischen Pretiosen unter
34 Bedingungen, die DDR-Jugendliche mit Zorn erfüllen. Ein Fan klagt darüber, dass
35 »Westplatten immer ausverkauft sind, da kommst du nicht ran«.
1036    Musikfans in der Bundesrepublik muss seltsam vorkommen, für welche
37 Schallplatten sich ihre DDR-Altersgenossen die Hacken ablaufen. West-Lizenzplatten,
38 die »Amiga« im vergangenen Jahr auf den Markt brachte, stammen von Künstlern wie
39 Modern Talking oder Stephan Sulke, von Heinz Rudolf Kunze oder Juliane Werding,
40 von Purple Schulz oder der» 1. Allgemeinen Verunsicherung«. Allein die Tatsache, dass
41 1es sich um Produkte aus dem Westen handelt, verleiht solcher Hausmannskost den
42 Glanz, den sie nicht hat. Denn ähnlich biederen Pop bekommt das DDR-Publikum auch
43 von den eigenen Stars serviert.
1144    Während die Sowjet-Union inzwischen ihre Untergrundmusik zum Teil auf dem
45 offiziellen Plattenlabel »Melodija« vertreibt, existiert in der DDR eine Pop-Subkultur,
46 die meilenweit von staatlicher Billigung entfernt ist. In Ost-Berlin und in der Provinz
47 blüht eine Szene von Garagen- und Kellerbands, die ihre schrägen, aggressiven
48 Punk-Klänge und ihre bitteren, sarkastischen Texte vor eingeweihtem Publikum
49 präsentieren.
1250    Auf einer anderen als auf der offiziellen Schiene, auf der bislang Stars wie
51 Lindenberg, Maffay, die Spider Murphy Gang oder Udo Jürgens im Sonderzug zu
52 DDR-Gastspielen reisten, konnte auch der Ost-Berliner Underground schon einmal
53 berühmten West-Besuch willkommen heißen. Ohne Kenntnis der amtlichen
54 Kulturverwalter und unbemerkt von Stasi-Spitzeln² spielte, zu Pfingsten 1984, die
55 Düsseldorfer Punkband »Die toten Hosen« in einer Kirche auf. Bei ihrem Auftritt
56 benutzten sie eine Verstärkeranlage, die ihnen klammheimlich von einer der
57 staatstragenden DDR-Bands zur Verfügung gestellt worden war.
58 So hat die offizielle, anerkannte DDR-Rockkultur doch noch nicht ganz die
59 Beziehung zur Basis verloren.

noot 1: VEB = volkseigener Betrieb
noot 2: Stasi = Staatssicherheitsdienst