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Hochbegabte haben es nicht leicht

11    Nikolas Unger (13) aus Stade hat zwar das absolute Gehör und trifft wie
2 selbstverständlich den Kammerton A. Doch in Musik hat er eine Fünf, weil er sich
3 weigert, am Unterricht teilzunehmen - ihm tun die falschen Töne der Schulkameraden
4 fast körperlich weh. Dieser Missklang zwischen Pflicht und Begabung ist typisch für die
5 Konflikte hochbegabter Schüler. Obwohl Nikolas einen Intelligenzquotienten (IQ) von
6 etwa 150 hat, ist - wie Vater Horst Unger, freier Journalist, sagt - »sein Zeugnis
7 katastrophal. Wenn es so weitergeht, kommt er auf die Hauptschule.«
28    Mit seinen Lehrern hatte Nikolas lange Zeit Krach, denn er wies ihnen pausenlos,
9 plausibel und logisch begründet, Fehler nach. Recht haben zu wollen ist ein häufiges
10 Merkmal bei Hochbegabten. Für Eltern und Lehrer wird dies dann oft zur
11 »Besserwisserei«, Antipathien und schlechte Zensuren sind die Folge . Wegen seiner
12 Schulprobleme hat Nikolas nervöse Störungen und ein psychisch bedingtes Ekzem
13 bekommen.
314    Die Schwierigkeiten solcher Supertalente erinnern an das Dilemma der
15 Legasthenie (Lese- und Rechtschreibschwäche) vor einigen Jahren, als man dies es
16 Phänomen noch nicht erforscht und solche Kinder schlicht als »behindert« abgeschoben
17 hatte.
418    Um Hochbegabten dieses Schicksal zu ersparen, hat sich in Hamburg eine
19 »Gesellschaft zur Förderung hochbegabter Kinder« gebildet. Sie will aufklären und
20 betroffenen Eltern mit Rat zur Seite stehen. Vor allem ab er will sie verhindern, dass sich
21 Skandale wie um den verkannten Dirk wiederholen, der durch Tabletten zum seelischen
22 Wrack wurde. Vorstandsmitglied Dr. Wilhelm Wieczerkowski, Professor am
23 Psychologischen Institut 11 der Universität Hamburg, weiß von Unterforderungen ein
24 Lied zu singen. Und er kennt die Folgen: »Einige wurden in Sonderschulen für
25 verhaltensauffällige Kinder überwiesen. Vielen Eltern ist ihr Kind nicht mehr geheuer.
26 Sie haben Angst, dass es nicht normal sein könnte und schämen sich.«
527    Normal sind sie tatsächlich nicht, aber nur deshalb, weil sie aus der Masse ragen.
28 Weil sie sich anders verhalten, anders reagieren. Deshalb möchte die Hamburger
29 Gesellschaft, die regionale Zentren aufbaut, dazu beitragen, dass Bildungspolitiker und
30 Schulbehörden das Problem der vergessenen Minderheit erkennen. Denn es gilt als
31 pädagogische Binsenweisheit, dass besonders begabter Nachwuchs nur in speziellen
32 Kursen mit gleichaltrigen Jungen und Mädchen zu seiner Art von »Chancengleichheit«
33 kommt. Nur so können sie erfahren, nicht immer nur die Ausnahme, die
34 »Wunderkinder«, zu sein.
635    Professor Weinschenk: »Wir dürfen unsere Begabungen nicht verkümmern lassen,
36 denn sie sind unser intellektuelles und kulturelles Kapital von morgen.«
737    In England und Amerika wird Hochbegabtenförderung seit langem betrieben hierzulande
38 gibt es nur bescheidene und privat geförderte Ansätze.
839    In Braunschweig hat die Christophorus Schule einen Zweig für »Überflieger«
40 eingerichtet. Die Kinder, die so leicht begreifen, aber so schwer begriffen werden, sollen
41 dort zu keiner Elite à la Eton, Cambridge oder Oxford herangezogen werden. Man will
42 sie nur vor dem Scheitern bewahren. Die Anmeldebewerbungen türmen sich dort.
43 Kürzlich schrieb eine Sechzehnjährige aus Bayern: »Ich gehe erst in die siebte Klasse
44 einer Hauptschule und habe im IQ-Test mit 139 abgeschnitten!« Eine Hochbegabte
45 offenbar, die bisher eher für blöd gehalten wurde.

Hamburg er Abendblatt, 21.02.1986