OPFER OHNE ANTWORT
Ach ja, die jungen Leute: Träge sind sie, nehmen den Wohlstand als Selbstverständlichkeit hin, | ||
von den Alten erwarten sie, daß alles zu Gebote steht, was verlangt wird, und verlangt wird immer | ||
mehr: nicht mehr die staatsbürgernde Schüler-Reise nach Bonn (oder, gesamtdeutschbildnerisch, | ||
nach Berlin), sondern die nach Moskau oder London. Aber wenn irgendeine Art von Dienst | ||
5 | verlangt wird, heißt die Antwort: "Null", kurzer Ausdruck für: "Wie komme ich denn dazu?" | |
So geht die Klage vieler Älterer. Doch da ist allerlei abzuziehen. Der Kummer um die weniger | ||
tugendhafte Jugend ist schon bei Schriftstellem der Antike nachzulesen. Da sich die Menschheit | ||
seither nicht wesentlich verändert hat, muß an dieser Klage etwas Subjektives sein; | ||
Selbstgewißheit, Idealisierung der eigenen Vergangenheit ist im Spiel. Des weiteren haben die | ||
10 | Alten den Jungen die kompaßsnadelartig auf Wohlleben eingestellte Existenz vorgeführt; sie | |
dürfen sich nicht wundern, wenn dies nachgemacht wird. | ||
Aber es gibt Gegenbeispiele, und Ältere, die an das "Es wird alles schlechter" nicht glauben | ||
wollen, nennen sie mit vorwurfsvoller Geste gegenüber den Selbstgerecht-Skeptischen. Da gibt es | ||
den jungen Mann, der sich eines behinderten Altersgefährten aufopfemd annimmt. Da gibt es das | ||
15 | junge Mädchen, das nicht nur über das Los von Kindem in femen Weltteilen nachdenkt, sondern | |
das Opfer bringt. Da sind auf gegenseitige Hilfe angelegte Gemeinschaften, die von manchen | ||
Alten mißverstanden werden als nichts anderes denn ein besonderer Ausdruck des Lebensgenusses | ||
Manches von dem, was sich in Bewegungen wie denen der Grünen eine Heimstatt sucht, | ||
entstammt dem Bedürfnis vieler Junger danach, etwas als sinnvoll Empfindbares zu tun. | ||
20 | Gemeinsinn, so sagen die Optimisten unter den Älteren, gebe es unter den jungen Leuten genug; | |
die Skeptiker ließen sich von äußeren Formen, die oft ungewöhnlich und manchmal erschreckend | ||
seien, den Blick darauf verstellen. Aber dieser Gemeinsinn, dessen Äußerungen als persönliches | ||
Opfer Anerkennung verdienen, ist vielfach von einer Art, die unmittelbare Bestätigung verlangt | ||
und einbringt. Der sich so äußernde Gemeinsinn ist individualistisch und einfallbezogen. Das ist | ||
25 | nichts Schlechtes, aber es genügt nicht den Forderungen einer auf Egalität angelegten | |
Sozialordnung. Diese erhebt den Anspruch, daß Gemeinsinn betätigt werde ohne den Blick auf | ||
ein persönlich vollbrachtes Werk der Hilfe, also auch ohne Dank; Gemeinsinn in der | ||
sozialstaatlichen Demokratie heißt zum Beispiel, den "Generationenvertrag" zu erfüllen, also den | ||
Altgewordenen, die einst das Heranwachsen und die Ausbildung bezahlt haben, das Entgelt zu | ||
30 | geben in der Form eines materiell gesicherten Lebensabends. Das Opfer geschieht abstrakt; | |
niemand weiß, wem die Rentenbeiträge, die einen immer höheren Anteil des Einkommens | ||
wegfressen, etwas nützen. Sie kommen allen zugute, und das heißt für das Bewußtsein: | ||
niemandem. | ||
Gemeinsinn in einer parlamentarischen Demokratie, das verlangt heute viel von den Jüngeren: | ||
35 | lernen, weil man es muß; arbeiten weithin im Dienst für andere, die man nicht kennt, und für | |
einen Staat, dessen Tun nicht immer sinnvoll erscheint. Die parlamentarische Demokratie ist | ||
eben eine überaus abstrakte Regierungsweise. Sie fordert Opfer und Verzicht, aber sie kann die | ||
unmittelbare Quittung dafür nicht ausstellen. Ob die Jungen es lernen können, unter solchen | ||
Forderungen Gemeinsinn zu üben? | ||
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.11.1980 |