Die Disziplinlosigkeit der Kraftfahrer dürfte nicht die Hauptursache dafür sein, daß | ||
Verkehrsunfälle in der Bundesrepublik sich am häufigsten innerorts an Kreuzungen ereignen. An | ||
Kreuzungen in Deutschland kracht es auch deshalb so oft, weil hier die Anforderungen des | ||
Verkehrsgeschehens nicht selten die Leistungsfähigkeit des Menschen hinter dem Steuer | ||
5 | übersteigen. Diese Ansicht vertritt Georg Geiser vom Karlsruher Fraunhofer-Institut für | |
Informations- und Datenverarbeitung, der mit seinem Team seit über 10 Jahren die Kommunikation | ||
zwischen Mensch und Technik erforscht. An Straßenkreuzungen, erklärt Geiser, müsse der | ||
Fahrer oft eine zu große Informationsflut von außen bewältigen. Um sicher zu fahren, müsste er | ||
sie augenblicklich verarbeiten, auf sie blitzartig und doch richtig reagieren. | ||
10 | Die Karlsruher Wissenschaftler haben diese mentale Belastung des Menschen im Straßenverkehr | |
gemessen. Sie entwickelten dazu eine spezielle Messbrille, mit der sich die Größe des Sehfeldes | ||
des menschlichen Auges messen lässt, Unter der Überlastung durch Information oder Gefahr engt | ||
sich nämlich der Sehbereich des Auges ein, es tritt der sogenannte Tunneleffekt auf. Geiser und | ||
seine Mitarbeiter haben nun bei ihren Untersuchungen festgestellt, dass im kritischen Augenblick | ||
15 | - in jenem Moment, in dem die Fahrer an Kreuzungen die Vorfahrt abschätzen müssen - der | |
Tunneleffekt am deutlichsten in Erscheinung tritt. Das Wahrnehmungsvermögen des Fahrers ist | ||
also gerade dann eingeschränkt, wenn es der Verkehrssituation entsprechend am größten sein | ||
sollte. | ||
Dass der Mensch am Steuer überfordert ist, rührt oft daher, dass das Verkehrsgeschehen an ihn | ||
20 | konkurrierende Forderungen stellt, deren Erfüllung er gegeneinander abwägen muss, So hat er | |
etwa andere Fahrzeuge, Fußgänger, Verkehrszeichen zu beobachten sowie auch die Armaturen | ||
des eigenen Fahrzeugs. Aber konkurrierende Forderungen sind nicht nur für Autofahrer ein | ||
Problem. Sie treten an der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine in sehr vielen Bereichen | ||
auf. So wurde etwa der Störfall des amerikanischen Atomkraftwerkes in Harrisburg zu einem | ||
25 | wesentlichen Teil dadurch verursacht, dass die technischen Entscheidungshilfen für die Männer | |
in der Schaltzentrale mangelhaft waren. | ||
Der Mensch ist nämlich nicht in der Lage, bei einer größeren Zahl konkurrierender Forderungen | ||
den Überblick zu behalten und die richtigen Prioritäten zu setzen. Zu diesem Ergebnis sind die | ||
Karlsruher Wissenschaftler bei einem speziellen Forschungsprojekt gekommen. Am Simulator | ||
30 | einer Schaltwarte untersuchten sie die Strategien, die Menschen entwickeln, um mit solchen | |
Mengen von Forderungen fertig zu werden. Dabei zeigte sich, dass sie, wenn die Belastung zu | ||
stark wird, die Forderungen nicht mehr nach ihrer Wichtigkeit ordnen, sondern die Rangfolge | ||
dem Zufall überlassen. | ||
Wenn nun die Sicherheit großtechnischer Anlagen erhöht werden soll oder überhaupt neue | ||
35 | technische Systeme in der Öffentlichkeit akzeptiert werden sollen - die menschengerechte | |
Gestaltung der Technik wird dabei eine entscheidende Rolle spielen. So ist es beispielsweise | ||
nach den Worten Geisers unumgänglich, verwirrend viele, auf den Menschen einströmende | ||
Alarmsignale ganz klar in ihrer Wichtigkeit, in ihrer Priorität zu kennzeichnen. Nur dann haben | ||
die Menschen die Möglichkeit, auf die wichtigsten Signale zuerst zu reagieren. | ||
Süddeutsche Zeitung, 18.3.1982 |