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Wenn die Scham verlorengeht

Wenn die Scham verlorengeht

 Getalkt wird im öffentlich-rechtlichen    Sympathie, sondern ein achselzuckendes „Was es
 Fernsehen schon seit über zwanzig Jahren. nicht so alles gibt“.
 Inzwischen sind die Schamgrenzen aller Je weniger das Gerede mit dem angekündigten
 Beteiligten gesunken. In welchen Kanal auch im- Thema zu tun hat, desto sicherer erfüllt sich die
5 mer der nachmittägliche oder abendliche Zuschau-50 Quote. Wirkliches Verständnis oder gar Toleranz
 er zappt, unweigerlich stößt er auf den Bekenntnis- werden nicht geweckt. Andere Anschauungen wer-
 drang der Talkshow-Teilnehmer, die offenbar darin den nach dem Zufallsprinzip bewertet oder abge-
 Trost finden, daß sie in ihrem ganzen Elend wenig- wertet. Es geht nur vordergründig um Themen und
 stens für ein paar Minuten interessant gewesen sind. Probleme. Je mehr die Darsteller überzeugen,
10 Häufig entstehen Situationen, in denen die55 desto unwichtiger werden die Inhalte. Jeder insze-
 Eitelkeit siegt und ein Gast sein Intimstes nach niert sich selbst, und niemand hört auf den ande-
 außen kehrt, sich der Demütigungen des geschickt ren. „Schön, daß wir drüber geredet haben. Passen
 fragenden Moderators nicht mehr erwehren kann Sie gut auf sich auf. Morgen sehen wir uns wieder“,
 und schon gar nicht wagt, den einzigen Satz auszu- pflegt Pastor Fliege dann zu sagen und erteilt auf
15 sprechen, der ihn aus dieser selbstverschuldet60 diese Weise seinen leeren Fernsehsegen.
 mißlichen Lage befreien könnte: daß das schließ- Moderne Gesellschaften scheinen zunehmend
 lich alles niemanden etwas angehe. die alte bürgerliche Unterscheidung von privat und
 Statt dessen lassen sich die Teilnehmer von öffentlich aufzuheben. Leute, die früher beim Kaf-
 Moderatoren verführen, die ihnen vorgaukeln, daß feeklatsch der Nachbarin, am Gartenzaun oder im
20 eine derart entwürdigende Selbstentblößung ir-65 Tante-Emma-Laden über andere herzogen, sitzen
 gendwie eine heilsame oder befreiende Wirkung jetzt auf den Plüschsofas der Talkshows.
 haben könnte. Offenbar sind Teilnehmer – wie Zu- Sie pflegen dort nicht etwa den öffentlichen
 schauer – auf der Suche nach Orientierung und Meinungsaustausch mündiger Bürger. Denn nur
 seelsorgerlichen Angeboten, die sie nicht mehr in die allerwenigsten Showteilnehmer sind imstande,
25 der Kirche und auch nicht auf der Couch eines The-70 die Regie des Talkshowmasters zu durchbrechen.
 rapeuten finden wollen. Erst wenn der Rausch des Den meisten scheint nichts als die blinde Unter-
 Auftritts verflogen ist, wird so manchem klar, wie werfung zu bleiben. Denn schließlich geht es in er-
 lächerlich er in der Öffentlichkeit gemacht wurde. ster Linie um den Talkmaster selbst, der die Gäste
 Es folgt nicht selten eine tiefe Depression. für seine Zwecke instrumentalisiert. Die Gelade-
30 In Wirklichkeit dient der Seelen-Striptease frei-75 nen beteiligen sich an dem Wettbewerb, wer die in-
 lich nur der Einschaltquote. timsten Geheimnisse am geschicktesten öffentlich
 Den deutschen Fernsehkonsumenten werden macht.
 gegenwärtig mehr als sechzig Talkshows mit Die mediale Beichte unterliegt keiner Sozial-
 wöchentlich über 130 Stunden Fernseh-Talk gebo- kontrolle und wird auch sonst nicht kritisiert. Sie
35 ten. Hinzu kommen 30 Stunden amerikanische80 wird bewundert und beklatscht und nicht etwa mit
 Talkshows auf den Kabelkanälen. Bei den Nach- unbequemen Ratschlägen beantwortet. In der
 mittagssendungen geht es vor allem um Partner- scheinbaren Toleranz der Fernseh-Talk-Gesell-
 schaft und Familie, das am zweithäufigsten behan- schaft spiegelt sich nichts anderes als abgrundtiefe
 delte Thema ist das der Sexualität, dann kommen Gleichgültigkeit. Aufgelöst ist die Spannung zwi-
40 Gesundheit und Lebenshilfe, Schicksalsschläge,85 schen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Wahr-
 Esoterik und Schwierigkeiten am Arbeitsplatz. heit und Lüge sowie die Grenze zwischen Öffent-
 Gewiß ist es richtig, daß der Fernseh-Talk einsa- lichem und Privatem. Scham ist ein altertümliches
 me Menschen am Leben anderer teilnehmen läßt, Wort. Sie diente einst dem Schutz vor Übergriffen
 aber es ist eben keine direkte Teilhabe im Sinne auf das eigene Innenleben. Ist mit dem Wort auch
45 eines Mitfühlens irgendeiner noch so schwachen90 der Schutz verschwunden?

Heike Schmoll, in: Kulturchronik 1997