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Die Voruteile verhärteten sich

Die Vorurteile verhärteten sich

Schulklassen aus Ost und West sind sich in einem Punkt einig: Sie finden sich blöd

1    Rosenkohl ist so ziemlich das ekligste Essen,    arrogant. Dieses Klischee ist dabei unangefochtener
 das es gibt. Darüber sind sich die vierzig Berliner Spitzenreiter auf der Skala der
 Gesamtschüler, die an einem verregneten Morgen Vorurteile. Und: »Die Jugendlichen ziehen sich
 im Halbrund zusammenhocken, einig. Übereinstimmung mehr und mehr auf gewohntes Terrain zurück. Die
5 auch in einem anderen Punkt:55 schotten sich wieder ab.Wo früher Neugierde war,
 Basketball ist voll cool! dominiert jetzt der Eindruck von Verletzungen«,
2    Zwei Schulklassen, die eine Ost, die andere hat Ursula Schirmer herausgefunden. Umfragen,
 West, sitzen sich - genau quotiert - gegenüber. die das Projekt »Gegen neue Mauern« im
 Teils neugierig, teils unbehaglich beäugt man vergangenen Jahr unter den beteiligten Schülern
10 einander, denn im Hinterkopf lauert noch eine60 gemacht hat, belegen das: Die Hälfte der Schüler
 dritte Gemeinsamkeit: Man findet sich gegenseitig aus Ost- und mehr als zwei Drittel der Schüler aus
 ganz einfach doof. »Blöd« steht an der weißen Westberlin hielten sich in ihrer Freizeit nur in der
 Schautafel, wo die Westschüler aufschreiben, wie jeweils eigenen Stadthälfte auf.
 die Ossis« sind. »Blöd« haben auch die5    Die Wiedervereinigung rückgängig machen?
15 Altersgenossen aus der Osthälfte notiert - unter65 Von den Neuköllner Schülern, die an diesem
 der Rubrik, wie sie »die Wessis« finden. Morgen zum Dialog antreten, wollen das
3    Bei soviel entzweiender Gemeinsamkeit immerhin knapp neunzehn Prozent. Aus der
 könnten die Schüler eigentlich nach Hause gehen, Ostberliner Partnerklasse aus Lichtenberg will das
 doch gerade an diesem Punkt fängt das nicht einer. Unter diesen Vorzeichen kommen sie
20 Experiment an: Seit gut zwei Jahren bringt das70 nur mühsam ins Gespräch.Außerdem:Was hat das
 Projekt »Gegen neue Mauern« Schulklassen aus zu bedeuten, daß die Neuköllner unter der Rubrik
 Ost- und Westberlin ins Gespräch. Einen »Ossis sind…« das Wort »Möchtegern-Nazis« an
 Vormittag lang üben Schüler der gleichen die Tafel geschrieben haben? »Okay, manche aus
 Jahrgangsstufe außerhalb der Schule auf unserer Klasse spinnen«, grummelt ein
25 neutralem Terrain« einen schwierigen Dialog -75 Lichtenberger Schüler sauer, »aber deswegen bin
 über ihre Erfahrungen mit der Wiedervereinigung. ich doch kein Nazi. Ich hab’ nichts gegen
 Diese fand statt, als einige von ihnen die letzten Ausländer!« Und was soll die Anmerkung
 Milchzähne verloren. Sie sollen Gemeinsames und »Begrüßungsgeld«? »Dreimal seid ihr das holen
 Trennendes ihrer Generation formulieren, die gegangen«, kommt ein Redeschwall von der
30 kaum noch unterscheidbar scheint. Sie sollen über80 Neuköllner Seite, »und unsere Eltern mußten
 Klischees und Vorurteile sprechen, die doch längst dafür arbeiten. Warum macht ihr das? Wir geben
 abgebaut sein sollten. doch eh schon so viel.«
4    1200 Neuntkläßler, Ost und West gemischt,6    Jetzt reagiert man »ostseits« nur noch verstockt.
 haben bisher an diesen Gesprächen teilgenommen. Da nützt keine Aufforderung, nun umgekehrt zu
35 Die Bereitschaft der Jugendlichen,85 sagen, warum Wessis »arrogant« und »großkotzig«
 miteinander zu reden, ist groß, die Notwendigkeit sind und »wie die Henker« Auto fahren. Die
 offenbar auch. Und so kurios ist es auch gar nicht, Schüler aus dem Ostteil sind gekränkt. Ohnehin
 daß die finanzielle Unterstützung für dieses sind sie dem Wortgewitter aus dem Westen kaum
 Experiment ausgerechnet von der Ausländerbeauftragten gewachsen. »Typisch Ossi!« arbeitet es in den
40 kommt. »Das Konfliktfeld West-Ost90 Neuköllner Köpfen: »Erst blöde Sprüche kloppen
 trägt ähnliche Züge wie das zwischen Ausländern und dann nicht den Mund aufmachen. Verdammt,
 und Deutschen«, meint Ursula Schirmer, die warum sagt ihr denn nix?« - »Hatte sowieso keine
 Leiterin von »Gegen neue Mauern«. Bei den Lust hierherzukommen«, mault ein Lichtenberger
 Jugendlichen beobachtet die Sozialwissenschaftlerin zurück, »warum soll ich mir das anhören: Ossis
45 derzeit widersprüchliche Trends: »Sie95 sind blöd.«
 unterscheiden sich kaum noch voneinander, sie7    Der Dialog, kaum begonnen, droht zu scheitern,
 haben die gleichen Probleme und in vielen Dingen da findet sich schließlich doch ein Weg, wenigstens
 auch die gleichen Auffassungen. Gleichzeitig einmal zuzuhören: Daß die Lehrer, früher im
 haben sich die negativen Vorurteile gegeneinander Osten, viel strenger waren und daß das gar nicht
50 verhärtet.« Ossis sind ausländerfeindlich - Wessis100 »sooo schlecht« war, daß die Eltern heute »nur

 noch gestreßt nach Hause kommen«, daß man sich   8    Am Ende haben die Schüler immerhin noch
 vor der Wende mehr »ins Zeug geklemmt hat für weitere Übereinstimmungen gefunden: Die Regierung
 eine gute Note« und daß das heute egal ist, weil soll am besten in Bonn bleiben, es müßten
 man »sowieso keine Lehrstelle kriegt«. Und umgekehrt: mehr Wohnungen geschaffen werden, mehr Arbeitsplätze
105 Daß man heutzutage auch im Westen mit115 und schließlich, »Ausländer, die nur
 »tausend« Bewerbungen um einen Ausbildungsplatz rumhängen, nicht arbeiten und Zoff machen«, sollen
 kämpfen muß, daß der Alltag »total nervig« raus aus Deutschland. Da nickt es, wiedervereinigt,
 geworden ist nach dem Mauerfall und daß es so von beiden Seiten.
 viele Cliquen gibt, die losprügeln und Jacken 
110 »abziehen«. Vera Gaserow, in: Die Zeit, 31.5.1996