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Tanz der Erinnerung

Tanz der Erinnerung

Eine Diskothek spielt Ostrock - gemäß altem DDR-Befehl

1    Berlin. - In einer Nacht pro Woche ist fast alles   4    Was treibt die Tänzerinnen und Tänzer - sieben
 wie früher, wie in der DDR: der Eintrittspreis, lange Jahre nach dem Ende der DDR - wieder zur
 die Getränke, die Musik. Denn seit nunmehr45 Musik eines untergegangenen Staates? Wieso erobern
 zweieinhalb Jahren startet jeden Freitagabend in der jene Bands, die die Wendewirren überlebten oder sich
5 Kulturbrauerei im Bezirk Prenzlauer Berg eine Party, nun erneut zusammenfinden, mit ihren CDs die
 die es sehr genau nimmt mit einem längst verhallten Musikläden im Osten? Warum scheint die DDR im
 Befehl: Bis 1989 galt eine Anweisung des DDR-Kulturministeriums Rückblick immer schöner zu werden? Wie die meisten
 für die »Aufführung von Tanzmusik50 Besucher möchte Cosima von politischen Gründen
 «. Mindestens sechzig Prozent aller Lieder, die im nichts wissen. Sie blickt zwanzig Jahre zurück: »Am
10 Radio oder in Jugendklubs gespielt wurden, mußten Fenster von der Gruppe City. Da denke ich an die
 von »Komponisten mit Wohnsitz in der DDR oder Spreewaldkneipe in Schöneiche. In einem riesigen
 anderen sozialistischen Ländern« stammen. Höchstens Tanzsaal haben die gespielt, da ging die Post ab. Ich
 vierzig - zensierte - Prozent durften aus dem55 war vierzehn damals.« Und immer wieder heißt es:
 »nichtsozialistischen Ausland« kommen. 60 : 40 »Damit bin ich groß geworden«, »Bei meinen Eltern
15 wurde die Anweisung genannt, und sie war unbeliebt. lief das oft« oder »Das haben wir früher nicht gemocht,
 Viele »Schallplattenunterhalter« - wie Discjockeys aber wenn wir’s heute hören, denken wir: Mensch, das
 heißen sollten, aber nie hießen - haben sich in den kennst du doch!« Manche der Jüngeren sehen die Party
 Jugendklubs nicht an die Order gehalten.60 als Satire, die Älteren sagen, daß mit der Musik
2    Jetzt stimmt die Mischung wieder. Rund 700 Gäste Erinnerungen an die schönen Seiten der
20 gehen jeden Freitag mit Karat Über sieben Brücken, Vergangenheit zurückkehren - an die Jugendklubs
 tanzen schwitzend zu Nina Hagens Ich hab’ den zum Beispiel, an den Ostseeurlaub, an die erste Liebe.
 Farbfilm vergessen, mein Michael, trinken Club-Cola Und so lassen die Besucher jeden Freitag ihre Biographien
 oder Rotkäppchen-Sekt und singen sogar die Oktoberklub-65 vertonen. Ja, was Privates angeht, könne das
 Hymne Sag mir, wo du stehst. Und die drei wirklich Ostalgie sein, sagen sie, schließlich sei außer
25 Mark und zehn Pfennig entsprechen dem alten Eintrittspreis. den Erinnerungen nicht viel geblieben. Aber politischer
 Doch während der Extragroschen früher Protest? Sehr groß sei der Unterschied zu einer
 an den Kulturfonds der DDR ging, sind es heute Peter Siebziger-Jahre-Party in Köln oder Hamburg nicht.
 Bethke und Uwe Lipphold, die von ihm profitieren.570    Rote Extremisten offenbaren sich tatsächlich äußerst
3    Im Frühjahr 1994 waren die beiden ostdeutschen selten bei 60 : 40 - zur Enttäuschung einiger Fernsehsender,
30 Mittdreißiger auf die Idee gekommen: ein Abend wie die in der Kulturbrauerei oftmals fröhliche
 in Jugendklub-Zeiten, inklusive 60 : 40-Order. Beim Urständ des Sozialismus wittern. »Die rücken fast
 ersten Mal, im Sommer desselben Jahres, kamen 150 regelmäßig um den 3. Oktober oder um den alten Tag
 Gäste in die ausgediente Kantine der ehemaligen75 der Republik hier an und wollen DDR-Fahnen und
 Brauerei, heute sind beide Initiatoren beinahe enttäuscht, blaue FDJ-Hemden filmen«, sagt Bethke. Immer wieder
35 wenn sie weniger als 600 Besucher zählen. zogen die Journalisten mit leeren Händen ab. Daß
 Ihre jüngsten Gäste sind achtzehn, die ältesten über mancher Bericht trotzdem reißerisch ausfiel, hat Bethke
 fünfzig Jahre alt. »Ostrock test the west« heißt die kaum geärgert: »Die haben doch noch richtig Werbung
 Party, bekannter ist sie schlicht als 60 : 40, obwohl alle80 für uns gemacht.« So hat sich die Ostparty längst im
 zwei Wochen sogar 90 : 10 gespielt wird - auch Lieder, Westen herumgesprochen. Was die Gäste angeht, lautet
40 die vor der Wende verboten waren. Aus der Idee ist ein das Verhältnis bei 60 : 40 mittlerweile 70 : 30.
 lukratives Geschäft geworden, sagt Bethke: »Wir 
 können sehr gut davon leben.« Henning Sußebach, in: Die Zeit, 24.1.1997