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Tatort Schule: »Was haben die anderen bloß gegenmeinen Jungen?«

Tatort Schule: " was haben die anderen bloß gegen meinen Jungen?"

11    Ein banges Zittern um die Mittagszeit - daran habe ich mich schon gewöhnt. Wird
2 Julian heute pünktlich aus der Schule nach Hause kommen? Oder muß ich ihn wieder
3 suchen, irgendwo befreien, vor irgendwem retten?
24    Einmal habe ich ihn von einem Baum geholt. Er saß da oben zwei Stunden, um die
5 Ecke unseres Hauses. Fünf Jungen aus seiner Klasse haben ihn gejagt und gesagt: »Wenn
6 du runterkommst, bist du dran.« Und so blieb er auf dem Ast hocken, als er die anderen
7 schon lange nicht mehr sah.
38    Seitdem hole ich ihn auf halbem Wege ab, wenn ich es nur irgend einrichten kann.
9 Aber auch das schützt nicht vor solchen Zwischenfällen: Plötzlich sehe ich einen Haufen
10 johlender Bengel um meinen Julian herurn. Er liegt am Boden, und zwei halten ihn mit
11 Zaunlatten nieder. Der Anblick ist ein Alptraum für mich. Er weint nicht, er wiegelt ab ,
12 wenn ich mit ihm reden will. Das schlimmste ist, Julian ist nicht wütend auf die
13 unverschämten Typen, sondern traurig, Daß er nicht zu ihnen gehört. Er wäre gern ein
14 bißchen wie sie!
415    Ich frage mich immer wieder:Was haben diese Jungen gegen ihn? Julian weiß es
16 nicht. Die meisten kennen sich schon aus dem Kindergarten. Und auch ihre Eltern sind
17 miteinander bekannt. Wir sind aber erst zur Einschulung in diese Gegend gekommen. Die
18 Kinder, die ihn hänseln, wohnen alle in einer Häuserreihe, die schon etwas älter ist, und
19 unsere StraBenseite wurde erst neu bebaut und sieht ein bißchen komfortabler aus. Ich
20 kann es nicht begreifen: Sollten solche Winzigkeiten ein Kind ins Abseits stellen?
521    Nie hätte ich gedacht, Daß ausgerechnet Julian zur Zielscheibe für die anderen
22 werden würde. Er ist ein hübscher Junge. Er trägt keine Brille - solche Kinder wurden zu
23 meiner Zeit geärgert. Er ist nicht dick oder klein. Er ist überhaupt nicht auffällig. Er
24 reagiert allerdings ziemlich oft etwas anders als andere Kinder. Darauf war ich immer
25 stolz.Während andere im Sandkasten auf dem Spielplatz ihre Schaufeln und
26 Buddelförmchen horteten, verlieh er seine bereitwillig. Einmal schenkte er einem
27 weinenden Mädchen seinen letzten Bonbon. lch habe ihn gelobt dafür. Führt Erziehung
28 zur Sensibilität in die Unfähigkeit, auf der StraBe klarzukommen? Er muß es lernen - ich
29 kann ihn nicht in einen Käfig setzen. Das wollte ich nie. Aber muß er roh werden, um der
30 Rohheit der anderen zu begegnen?
631    Ich habe in der Schule Alarm geschlagen: »Was ist hier los? Warum schützen Sie
32 mein Kind nicht vor diesem Terror?« Die Lehrerin hat bedauernd gelächelt und gesagt:
33 »Kinder sind grausam.« Und für mich klang es wie : »Pech, Daß Ihrer leider zu den
34 Schwächeren gehört.« Aber sich versprach, sich die Jungen vorzuknöpfen.
35 Ich bin nicht sicher, ob das gut ist , denn eigentlich sollte Julian seine Dinge selbst
36 regeln können. Und eine petzende Mutter fördert sein Ansehen bestimmt nicht. Ich denke
37 manchmal an einen Schulwechsel. Aber wir sind gerade umgezogen. Und er soll nicht
38 lernen wegzulaufen, wenn es Schwierigkeiten gibt. Ich will ihn wirklich nicht zu sehr
39 beschützen. Die Rauhbeine wittern offenbar, wie weich und empfindsam er ist. Und genau
40 das reizt sie wahrscheinlich.
741    Irgendwann habe ich voller Wut gesagt: »Dann hau doch zurück.« - »Ich kann
42 nicht«, hat er erst gesagt. Aber drei Tage später bekam ich einen erbosten Anruf aus der
43 Schule: »Julian hat ein Mädchen getreten.«Am liebsten hätte ich der Lehrerin gesagt: »In
44 Ihrer Raubtierklasse mußte es ja soweit kommen.« Aber ich fragte sie, warum Julian
45 eigentlich so lange gereizt worden sei, bis er nun selbst ausrastete.
846    Die Antwort machte mir einiges klar: Julian biete wirklich groBe Angriffsflächen. Er
47 sei langsam, verträumt, dauernd falle ihm was vom Tisch, Plötzlich verstand ich : Diese
48 Lehrerin hat mit ihren ironischen Spitzen meinen Sohn lächerlich gemacht und zum
49 Abschuß freigegeben.