1 | 1 | | Ein banges Zittern um die Mittagszeit - daran habe ich mich schon gewöhnt. Wird |
| 2 | | Julian heute pünktlich aus der Schule nach Hause kommen? Oder muß ich ihn wieder |
| 3 | | suchen, irgendwo befreien, vor irgendwem retten? |
2 | 4 | | Einmal habe ich ihn von einem Baum geholt. Er saß da oben zwei Stunden, um die |
| 5 | | Ecke unseres Hauses. Fünf Jungen aus seiner Klasse haben ihn gejagt und gesagt: »Wenn |
| 6 | | du runterkommst, bist du dran.« Und so blieb er auf dem Ast hocken, als er die anderen |
| 7 | | schon lange nicht mehr sah. |
3 | 8 | | Seitdem hole ich ihn auf halbem Wege ab, wenn ich es nur irgend einrichten kann. |
| 9 | | Aber auch das schützt nicht vor solchen Zwischenfällen: Plötzlich sehe ich einen Haufen |
| 10 | | johlender Bengel um meinen Julian herurn. Er liegt am Boden, und zwei halten ihn mit |
| 11 | | Zaunlatten nieder. Der Anblick ist ein Alptraum für mich. Er weint nicht, er wiegelt ab , |
| 12 | | wenn ich mit ihm reden will. Das schlimmste ist, Julian ist nicht wütend auf die |
| 13 | | unverschämten Typen, sondern traurig, Daß er nicht zu ihnen gehört. Er wäre gern ein |
| 14 | | bißchen wie sie! |
4 | 15 | | Ich frage mich immer wieder:Was haben diese Jungen gegen ihn? Julian weiß es |
| 16 | | nicht. Die meisten kennen sich schon aus dem Kindergarten. Und auch ihre Eltern sind |
| 17 | | miteinander bekannt. Wir sind aber erst zur Einschulung in diese Gegend gekommen. Die |
| 18 | | Kinder, die ihn hänseln, wohnen alle in einer Häuserreihe, die schon etwas älter ist, und |
| 19 | | unsere StraBenseite wurde erst neu bebaut und sieht ein bißchen komfortabler aus. Ich |
| 20 | | kann es nicht begreifen: Sollten solche Winzigkeiten ein Kind ins Abseits stellen? |
5 | 21 | | Nie hätte ich gedacht, Daß ausgerechnet Julian zur Zielscheibe für die anderen |
| 22 | | werden würde. Er ist ein hübscher Junge. Er trägt keine Brille - solche Kinder wurden zu |
| 23 | | meiner Zeit geärgert. Er ist nicht dick oder klein. Er ist überhaupt nicht auffällig. Er |
| 24 | | reagiert allerdings ziemlich oft etwas anders als andere Kinder. Darauf war ich immer |
| 25 | | stolz.Während andere im Sandkasten auf dem Spielplatz ihre Schaufeln und |
| 26 | | Buddelförmchen horteten, verlieh er seine bereitwillig. Einmal schenkte er einem |
| 27 | | weinenden Mädchen seinen letzten Bonbon. lch habe ihn gelobt dafür. Führt Erziehung |
| 28 | | zur Sensibilität in die Unfähigkeit, auf der StraBe klarzukommen? Er muß es lernen - ich |
| 29 | | kann ihn nicht in einen Käfig setzen. Das wollte ich nie. Aber muß er roh werden, um der |
| 30 | | Rohheit der anderen zu begegnen? |
6 | 31 | | Ich habe in der Schule Alarm geschlagen: »Was ist hier los? Warum schützen Sie |
| 32 | | mein Kind nicht vor diesem Terror?« Die Lehrerin hat bedauernd gelächelt und gesagt: |
| 33 | | »Kinder sind grausam.« Und für mich klang es wie : »Pech, Daß Ihrer leider zu den |
| 34 | | Schwächeren gehört.« Aber sich versprach, sich die Jungen vorzuknöpfen. |
| 35 | | Ich bin nicht sicher, ob das gut ist , denn eigentlich sollte Julian seine Dinge selbst |
| 36 | | regeln können. Und eine petzende Mutter fördert sein Ansehen bestimmt nicht. Ich denke |
| 37 | | manchmal an einen Schulwechsel. Aber wir sind gerade umgezogen. Und er soll nicht |
| 38 | | lernen wegzulaufen, wenn es Schwierigkeiten gibt. Ich will ihn wirklich nicht zu sehr |
| 39 | | beschützen. Die Rauhbeine wittern offenbar, wie weich und empfindsam er ist. Und genau |
| 40 | | das reizt sie wahrscheinlich. |
7 | 41 | | Irgendwann habe ich voller Wut gesagt: »Dann hau doch zurück.« - »Ich kann |
| 42 | | nicht«, hat er erst gesagt. Aber drei Tage später bekam ich einen erbosten Anruf aus der |
| 43 | | Schule: »Julian hat ein Mädchen getreten.«Am liebsten hätte ich der Lehrerin gesagt: »In |
| 44 | | Ihrer Raubtierklasse mußte es ja soweit kommen.« Aber ich fragte sie, warum Julian |
| 45 | | eigentlich so lange gereizt worden sei, bis er nun selbst ausrastete. |
8 | 46 | | Die Antwort machte mir einiges klar: Julian biete wirklich groBe Angriffsflächen. Er |
| 47 | | sei langsam, verträumt, dauernd falle ihm was vom Tisch, Plötzlich verstand ich : Diese |
| 48 | | Lehrerin hat mit ihren ironischen Spitzen meinen Sohn lächerlich gemacht und zum |
| 49 | | Abschuß freigegeben. |
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