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Storchensterben in Norddeutschland

11    Als ich von den fürchterlichen Nachrichten hörte, fuhr ich sofort nach Bergenhusen
2 los. »Unheimliches Storchensterben in Norddeutschland.« Und: »Der geheimnisvolle Tod
3 der Storchenkinder.«
24    Bergenhusen liegt in Schleswig-Holstein, bei Rendsburg. 700 Einwohner,
5 15 Storchenpaare, die ihre Nester auf Dächern der reetgedeckten Bauernhäuser, auf
6 Telefon- und Elektromasten haben. 35 Junge gab es in diesem Jahr. Das wußte ich. Soviel
7 wie seit 17 Jahren nicht mehr. Über die Hälfte der Storchenbabys aber war jetzt tot.
38    Auf der Fahrt nach Bergenhusen durchforschte ich mein Wissen über Störche:
9 Stelzvogel, in feuchten Ebenen lebend, hochbeinig, langhalsig, gut segelnd. Ernährt sich
10 von Fröschen, Eidechsen und Insekten. Genannt Adebar, der Glücksbringer, aus dem
11 niederdeutschen »Odabora«.
412    Wenn junge Störche sterben, schrecken die Menschen auf. Der Storch ist ein
13 mystischer Vogel. Ich muß es ehrlich sagen. Ich war beunruhigt. Was haben wir Menschen
14 wieder gemacht?
515    Mit diesen Gedanken fuhr ich nach Bergenhusen, ins berühmte Storchenparadies,
16 wo die Katastrophe geschehen war. Bergenhusen liegt still da, friedlich, eine Idylle,
17 Storchennester überall. Am Wochenende ist die Hölle los, Tausende von Besuchern.
618    Die Storchenkinder wären verhungert, weil die Junihitze Frösche, Würmer und
19 andere Beutetiere getötet hätte, vermeldeten Zeitungen. Konnte das stimmen, in unserem
20 Überfluß?
721    Seit dem Eintreffen der schmuckweißen Stelzvögel aus dem südlichen
22 Winterquartier im April betreiben die Bergenhusener täglich eine Zufütterstation. Ab
23 17 Uhr kann sich hier jeder Storch, der nicht sattgeworden ist, Fisch abholen. Vor Hunger
24 konnte kein Storchenkind gestorben sein.
825    Sind die Storchenbabys also vergiftet worden, wie es das Fernsehen meldete? Durch
26 Pflanzenschutzmittel, Pestizide? Die 1,10 Meter großen Eltern pieken gern die fetten
27 Schnakenmaden, die in der obersten Bodenschicht der Wiesen und Weiden von
28 Graswurzeln leben. Gegen sie gibt es chemische Gifte. Aber die Bergenhusener Bauern,
29 die ihre Störche lieben, wenden das Teufelszeug nicht an.
930    Die Obduktion zweier toter Jungstörche durch Tierärzte der Universität Gießen
31 ergab, daß sie weder an Gift noch an einer Krankheit gestorben sind. Also verbreitete
32 auch das Fernsehen Unsinn.
1033    Die Naturschutzaktivitäten gelten in und um Bergenhusen als vorbildlich. Die
34 Bundeswehr sprengte vier Seenplatten in den ausgedörrten Boden, damit Vogelschützer
35 Froschlaich einsetzen konnten, so daß Adebar wieder Frösche fangen kann. Die
36 Elektrizitätsgesellschaft verlegte viele Kilometer Starkstromleitung unter die Erde und
37 beseitigte den »elektrischen Stuhl«, auf dem früher Störche in Flammen aufgingen, wenn
38 sie sich auf den Masten ausruhen wollten.
1139    Aber warum dann jetzt dies erschütternde Kindermassensterben?
1240    Ich habe dasselbe schon vor einigen Jahren im österreichischen Storchendorf Rust
41 am Neusiedlersee erlebt. Damals hatte es dort im Juni plötzlich Nachtfrost gegeben, genau
42 wie in diesem Jahr auch in Bergenhusen. Und auch dort starben viele Nestlinge einen
43 jähen Tod. Wieso?
1344    Alle jungen Storchenkinder werden nachts von der Mutter unter ihrem Gefieder
45 gewärmt. Sie blieben alle am Leben, damals in Rust und jetzt in Bergenhusen. Aber wenn
46 die Nestlinge etwas älter sind, erlischt in den Eltern der Instinkt, den Nachwuchs unter die
47 Fittiche zu nehmen, auch wenn es frostig kalt wird. Zu einsichtsvollem Verhalten sind sie
48 nicht fähig .
1449    So bekamen alle älteren Storchenkinder einen Kälteschock. Der zerstörte den
50 Freßtrieb. Auf diese Weise sind sie Hungers gestorben. Angesichts von Zentnern von
51 Fischen auf dem Futterplatz.

Bunte 28,1989