Background image

terug

Was macht der Fuchs an Gleis 7?

11    Verwundert rieb sich Johannes Wulf aus Bottrop die Augen: Als er im Morgengrauen
2 aus der Haustür trat, hockte vor seiner umgekippten Mülltonne ein Fuchs. Zunächst hatte
3 der 74jährige Rentner das »merkwürdige Tier« gar nicht als Fuchs erkannt. Erst als der
4 vermeintliche Hund zu den Gleisen des nahegelegenen Güterbahnhofs flitzte und dabei
5 seinen buschigen Schwanz präsentierte, wußte Rentner Wulf, daß es ein Fuchs war.
26    Immer mehr Tiere, die früher menschliche Nähe mieden, haben in unseren Städten
7 eine neue Überlebenschance gefunden. Sozusagen als Revanche dafür, daß der Mensch
8 ihnen Stück für Stück ihres angestammten Lebensraumes wegnimmt.
39    »Es sind nicht die Spezialisten, die zu uns in die Städte kommen«, erklärt der Bonner
10 Zoologe Professor Jochen Niethammer. »Es sind die anpassungsfähigen Tiere, die
11 Überlebenskünstler, die sich schnell an den ständigen Stadtlärm gewöhnen. Sie wissen
12 genau, daß sie in den Städten vor Jägern sicher sind, und daß sie hier immer reichlich
13 Nahrung finden. Oft ist das, was die Menschen an Eßbarem übriglassen,
14 abwechslungsreicher als das Nahrungsangebot in Wald und Feld.«
415    Häufig entwickeln sich die »Stadtstreicher« sogar zu ausgesprochenen
16 Feinschmeckern. Rehe entdecken ihre Liebe zu Stiefmütterchen (1), Marder haben es auf
17 Autoreifen abgesehen. Die Vorliebe der flinken Jäger für Kunststoff und Gummi war
18 zeitweise so ausgeprägt, daß der ADAC die Autofahrer vor den Reifen- und
19 Schläuchefressern warnen mußte.
520    Einige Städte - wie Berlin und Hamburg - beschäftigen bereits ehrenamtliche
21 Stadtjäger, die zu Hilfe kommen, wenn die Tiere lästig werden. Bei mehr als 3000 Füchsen
22 im Ruhrgebiet und etwa 2000 Füchsen in Berlin kann es schon zu Problemen kommen,
23 zumal Füchse auch Tollwut übertragen können. Auf Berliner Schulhöfen wurden denn
24 auch schon mal Fuchsfallen aufgestellt.
625    Normalerweise aber verläuft das Zusammenleben mit den »verstädterten« Tieren
26 harmonisch. Vor allem die alteingesessenen Kulturfolger haben es sich in unseren Städten
27 mittlerweile richtig bequem gemacht.
728    Tierbuchautor Vitus B. Dröscher berichtet von Rabenkrähen, die im Herbst
29 Walnüsse von den Bäumen ernten, sie auf die Straße werfen und warten, bis sie von den
30 vorüberfahrenden Autos geknackt werden. Er weiß von Sperlingen, die in Lagerhallen
31 leben und niemals das Tageslicht sehen. Er kennt Amseln, die ihre Nester aus
32 Zeitungspapier auf Neonröhren und Ampeln bauen, wo es hell und warm ist. Meisen
33 suchen sich gelegentlich sogar Hausbriefkästen zur Familiengründung.
834    Zu den ältesten Stadtbewohnern unter den Tieren zählen sicher die Kaninchen. In
35 manchen Dörfern und Städten hoppeln mittlerweile so viele durch die Grünanlagen, daß
36 auch hier die Stadtjäger eingreifen müssen, »Aber sie schaffen es doch nicht, den
37 städtischen Kaninchenbestand ernsthaft zu gefährden«, sagt Zoologe Jochen Niethammer.
938    Heute würden die Jäger am liebsten wieder auf die inzwischen geschützten
39 Rabenvögel Jagd machen, die in nahezu allen Dörfern und Städten heimisch geworden
40 sind und in manchen Gegenden fast zur Plage werden. Die schwarzen Vögel haben ihren
41 robusten Magen schon ganz auf den Stadtmüll eingestellt: Mit Vorliebe fressen sie
42 Gummiringe, zerplatzte Luftballons und Reste von Wachskerzen. Zoologen stellten fest ,
43 daß die Tiere diesen Abfall als Ballaststoffe brauchen. Sie könnten sonst unsere
44 Küchenabfälle nicht verdauen.
1045    Einer Tiergattung aber bekommt das Stadtleben gar nicht: den Igeln. Tausende sind
46 schon überfahren worden, weil sie vor Gefahren nicht flüchten, sondern sich einigeln und
47 für sicher halten. Und viele müssen sterben, weil ihnen Menschen immer wieder Milch zu
48 trinken geben, die sie nicht vertragen.

noot 1
das Stiefmütterchen = het viooltje

Hörzu; 22.5.1988