1 | 1 | | Orkan über der Nordsee. Sturmböen peitschen mit über 100 Stundenkilometern |
| 2 | | über das Meer. Die Wellenberge türmen sich bis zu acht Metern Höhe. In der |
| 3 | | Elbmündung, fünf Seemeilen westlich von Tonne I, kämpft sich der griechische Frachter |
| 4 | | »Spyros« durch Brecher und Gischt. Die Decksaufbauten halten den Wassermassen |
| 5 | | kaum stand. Ein losgerissener Ladebaum droht die Luken des Schiffes zu zerschlagen. |
| 6 | | Verzweifelt versucht die Mannschaft, ihn mit Seilen zu sichern, als das Unglück |
| 7 | | geschieht. Der zweite Ladebaum bricht und begräbt zwei Männer unter sich. Ihre |
| 8 | | Verletzungen sind lebensgefährlich. Der Kapitän setzt einen Notruf ab. |
2 | 9 | | 20 Minuten später schrillen auf dem Seenotkreuzer »Hermann Helms« im Hafen |
| 10 | | von Cuxhaven die Alarmglocken. Innerhalb einer Minute ist das Schiff klar zum |
| 11 | | Auslaufen. Mit der Kraft von über 3000 PS kämpft sich der Kreuzer durch den Orkan. Es |
| 12 | | ist ein Wettlauf um zwei Menschenleben gegen Naturgewalt und Zeit. |
3 | 13 | | Was in Seenot geratene Menschen empfinden, wie tief ihre Ängste sind, das |
| 14 | | erzählen die Geretteten später: »Das Schlimmste sind nicht die Schmerzen. Das |
| 15 | | Furchtbarste ist das Gefühl der grenzenlosen Hilflosigkeit, die immer wiederkehrende |
| 16 | | Frage, ob die Retter unter diesen Wetterbedingungen überhaupt kommen können. Man |
| 17 | | lebt mit der fürchterlichen, lebensbedrohlichen Angst, dass den Rettern die Bergung |
| 18 | | mißlingt.« |
4 | 19 | | Doch die 16 Kreuzer und 21 Boote der Deutschen Gesellschaft zur Rettung |
| 20 | | Schiffbrüchiger (DGzRS) kommen immer. Claus Wolter, 43, Vormann auf der |
| 21 | | »Hermann Helms«, erklärt: »Unsere modernen Schiffe mit der doppelten Außenhaut aus |
| 22 | | Aluminium sind praktisch unsinkbar. Sie sind so konstruiert, dass sie sich aus jeder Lage |
| 23 | | von selbst wieder aufrichten.« Der tragische Beweis ereignete sich in einer Orkannacht |
| 24 | | am 24. Februar 1967, als acht Seeleute ertranken. |
5 | 25 | | Nördlich von Helgoland hatte damals der mit vier Männern besetzte |
| 26 | | Rettungskreuzer »Adolph Bermpohl« mit seinem Tochterbeiboot holländische Fischer |
| 27 | | von ihrem leckgeschlagenen Kutter geborgen. Als die Geretteten auf die »Bermpohl« |
| 28 | | umsteigen wollten, verschlang ein »Kaventsmann«, eine Riesenwelle, den Kreuzer. Beim |
| 29 | | Durchkentern des Schiffes wurden alle Mann in die See gerissen und ertranken. Die |
| 30 | | »Bermpohl« aber richtete sich wieder auf und fuhr als Geisterschiff weiter über die See. |
| 31 | | Einen Tag später wurde sie fast unbeschädigt geborgen. |
6 | 32 | | Auf dem Seenotkreuzer »Hermann Helms« hat man inzwischen die »Spyros« am |
| 33 | | Horizont gesichtet. Der Frachter schlingert schwer in der See. Brecher fegen in kurzen |
| 34 | | Abständen über Deck und schlagen an den Decksaufbauten hoch. Claus Wolter versucht, |
| 35 | | längsseits der »Spyros« zu scheren. Nur wenige Sekunden kann er den Kreuzer dicht |
| 36 | | daneben halten. Dann wirft eine querlaufende See die »Hermann Helms« gegen die |
| 37 | | stählerne Bordwand des Frachters. Wolter entscheidet: »Manöver abbrechen!« In dieser |
| 38 | | Sturmsee kann er die Schwerverletzten nicht übernehmen. Wolter: »Das würden sie nicht |
| 39 | | überleben. Und wir vielleicht auch nicht.« |
7 | 40 | | Über Funk lotst Claus Wolter die »Spyros« in den Schutz der nahen Sände, wo das |
| 41 | | Wasser ruhiger ist. Die Verletzten werden geborgen und sofort im Bordspital des |
| 42 | | Rettungskreuzers versorgt. Wieder zwei Menschen, die den »Engeln der See« ihr Leben |
| 43 | | verdanken. |
8 | 44 | | Die »Hermann Helms« läuft bereits mit voller Kraft auf Heimatkurs. Ein Einsatz |
| 45 | | nähert sich seinem erfolgreichen Ende. Einer von rund 1800 jährlich, bei denen allein im |
| 46 | | vergangenen Jahr insgesamt 1850 Menschen gerettet oder aus Gefahren befreit wurden. |