1 | 1 | | Es war unglaublich, und es bleibt unvergeßlich! Die Geburt eines Elchbabys1) in der |
| 2 | | Wildnis Alaskas miterleben zu können ist für einen Reporter schon ein Glücksfall, Und |
| 3 | | bei uns waren es sogar Zwillinge - eine zoologische Seltenheit. Doch was dann noch |
| 4 | | geschah, war ein Naturereignis von einmaliger Dramatik. Die ganze Geschichte hatte |
| 5 | | damit begonnen, dass uns ein Wildhüter von einer trächtigen Elchkuh berichtete, die bald |
| 6 | | kalben mußte. Sie wollten wir in der Wildnis finden. |
2 | 7 | | Seit Tagen sind wir unterwegs. Es muß früher Abend sein, als wir aus dem Dickicht |
| 8 | | auf eine große Lichtung gelangen. Und da sind wir am Ziel: Wie ein mächtiger, leuchtend |
| 9 | | kastanienroter Klotz hebt sich die Elchkuh von dem hellen Grün der Wiese und von dem |
| 10 | | Dunkel der Fichten ab. |
3 | 11 | | Behutsam schleichen wir uns näher. Aber die Vorsicht ist nicht nötig. Die Elchkuh |
| 12 | | hat im Augenblick für ihre Umgebung keine Zeit: Zu ihren Füßen liegt ein vor wenigen |
| 13 | | Minuten geborenes Kälbchen, ein zweites kommt gerade zur Welt... Die Mutter beginnt, |
| 14 | | sie trockenzulecken. Sie hat ein ideales Lager für ihren Nachwuchs ausgesucht, Der |
| 15 | | Boden ist mit weichem Moos bedeckt und der Platz nur von einer Seite einsehbar. Das ist |
| 16 | | wichtig wegen der Wölfe und Bären, die immer auf der Suche nach Beute sind. Fast die |
| 17 | | Hälfte aller Elchkälber, so berichtete uns der Wildhüter dieser Waldregion, werden ein |
| 18 | | Opfer der Grizzlybären. |
4 | 19 | | Drei Tage und drei Nächte beobachten wir die Tier-Idylle am Rand des Waldes. |
| 20 | | Ein rührendes Bild. Doch am Morgen des vierten Tages bemerken wir eine Veränderung |
| 21 | | an der Elchkuh. Ihre Kinder liegen sorglos im hohen Gras, aber sie ist voller Unruhe. |
5 | 22 | | Mit dem Fernglas suchen wir die Umgebung ab, und genau in dem Moment, als wir |
| 23 | | die Elchmutter wild aufschnauben hören, sehen wir den Grund ihrer Aufregung. Eine |
| 24 | | tödliche Gefahr droht, Ein Grizzlybär, ein semmelblonder Brocken von gewaltigen |
| 25 | | Ausmaßen, nähert sich dem Lager der Elchbabys. Er macht das gar nicht heimlich, |
| 26 | | sondern trottet eher gemächlich über die Lichtung. |
6 | 27 | | Er ist nur noch etwa 30 Meter entfernt, als die Elchkuh die Flucht nach vorn |
| 28 | | ergreift. Mit hochaufgerichtetem Nacken- und Rückenfell stürmt sie auf ihren Todfeind |
| 29 | | los. Die Hufe wirbeln donnernd auf dem Waldboden, sie springt in die Luft und schlägt |
| 30 | | mit den Vorderläufen nach dem Grizzly. |
7 | 31 | | Die Todesangst um ihre Jungen verleiht ihr Riesenkräfte und selbstmörderischen |
| 32 | | Mut. Normalerweise fliehen Elche vor Bären. Die Wildhüter haben es oft genug erlebt. |
8 | 33 | | Der Grizzly ist so verblüfft, dass er sich überhaupt nicht zur Wehr setzt. Im |
| 34 | | Gegenteil: Er richtet sich zwar zu seiner furchteinflößenden Größe von fast drei Metern |
| 35 | | auf - aber nur, um sich sofort umzudrehen und in großen Sprüngen das Weite zu suchen. |
| 36 | | Die Elchmutter setzt ihm sogar nach. Sie ist erst beruhigt, als der Bär im dichten |
| 37 | | Unterholz verschwunden ist. |
9 | 38 | | Noch immer erregt schnaubend, trottet sie zu ihren Kälbern zurück und leckt ihnen |
| 39 | | zärtlich übers Feil. |
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| | | Hörzu, 20.7.1984 |