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Ein langer weg von Punkt ze Punkt

Ein langer Weg von Punkt zu Punkt.

Robert ist 27 Jahre alt - jetzt lernt er lesen und schreiben

 In der Grundschule habe ich ein        Wenn es darum geht, irgendet-    Robert. Lange Sätze auch: Manch-
 falsches Wort geschrieben, da30 was auszufüllen, begleitet ihn seine mal ist der Punkt so weit weg."
 hab' ich eine gewatscht Mutter. Für den Führerschein fehlte     In seiner Stammkneipe werden
 gekriegt",erzählt Robert (Name ihm der Mut, deshalb kurvt er mit60 schon mal blöde Witze über Anal-
5 geändert). Und weil er ein „stu- dem Rad oder per Bus durch Düs- phabeten gemacht. „Aber da lach"
 rer Kopf" war und Angst hatte, beim seldorf. Automatenkämpfen entgeht ich drüber. Wer nicht lesen und
 nächsten Fehler wieder bestraft zu35 Robert mit dem Ticket 2000. Selbst schreiben kann, ist trotzdem
 werden, hat er in Deutsch nichts wenn er irgendwann schreiben schlau", findet Robert. Meistens be-
 mehr gemacht. kann, Liebesbriefe würde er nicht65 gegnet er hilfsbereiten Leuten. An-
10     Seine Eltern wollten es in ihn verfassen: „Ich kann besser quat- sonsten ist er erfinderisch: „Im Restau-
 reinprügeln - vergebens. In anderen schen, ich telefonier" lieber." rant hab ich die Nummer bestellt, die
 Fächern war er gut, nur die Sechs40     Seit zwei Jahren geht Robert die meisten genannt haben. War lecker!
 in Deutsch machte keinen guten zweimal wöchentlich in einen     "Mit seiner fröhlichen Art bietet er
 Eindruck auf seinem Zeugnis und AIphabetisierungskursder VHS').70 kaum Angriffsfläche für Spott. „Den
15 sorgte dafür, daß Robert schließlich Seine Ex-Freundin hatte ihn dazu meisten aus dem Kurs ist es pein-
 auf einer Sonderschule landete. motiviert. Mit riesiger Angst ging er lich. Ich fühl" mich besser, wenn ich
     Mit 17 machte er den Sonder-45 hin, kriegte kein Wort raus. „Aber offen bin, dann ist es auch keine
 schulabschluß, bekam aber keine mir ist ein Stein vom Herzen gefal- seelische Belastung." Zu Weih-
 Lehrstelle. Seither schlägt er sich len, als ich gemerkt hab", daß ich75 nachten bekam er Kinderbücher - in
20 als Hilfsarbeiter durch, erst in einer nicht der einzige bin, der nicht Schreibschrift. „Für die ersten Zei-
 Gärtnerei, dann in einem Kfz- schreiben kann. Jetzt macht's Spaß, len hab" ich fast "ne Stundegebraucht.
 Betrieb. Jetzt arbeitet er bei der IG50 wir sind eine richtige Clique Aber das schaff" ich dieses
 Lappen, steht an einer großen geworden." Zu siebt lernen sie Jahr noch", meint Robert. „Im Jahr
 Waschmaschine und reinigt Putz- die Welt der Buchstaben kennen.80 2000 werd" ich 30, dann kann ich
25 lappenaus Druckereien oder Auto- Diktate, freihändig an der Tafel lesen und schreiben. Dann bin ich
 waschanlagen. „Ich war bisher nur schreiben, vorlesen. „Rheinprome- ein normaler Mensch."
 einen Tag arbeitslos", erzählt Ro-55 nade" ist ein furchtbares Wort. Alle
 bert stolz. langen Wörter sind furchtbar, findet

Für die meisten Menschen ist es einfach, aus zusammen-
hängenden Buchstaben Worte und Sätze zu bilden.Für
manche ist es Hexerei.         Fotomontage: Michael Sohn

Noch Nachholbedarf?

     Die UNESCO schätzt, daß es bundesweit etwa vier Millionen erwachsene Analphabeten gibt. Allein in Düsseldorf leben etwa 12 000, doch die Kurse der VHS zählen nur 80 Teilnehmer. Die meisten Analphabeten verbergen ihre Schwäche, haben im Zweifelsfall ihre „Lesebrille vergessen".
     Aufgrund der allgemeinen Schulpflicht gibt es in Deutschland kaum totale, sondern vor allem funktionale Analphabeten, d.h. sie können ein wenig schreiben, leichtere Texte lesen, wenden ihre begrenzten Fähigkeiten aber nicht an, weil sie Angst haben, verspottet zu werden.
     Es gibt verschiedene Gründe, warum jemand Analphabet wird, erklärt Peter Hubertus vom Bundesverband Alphabetisierung e.V. Manche seien in der Kindheit krank gewesen und hätten die Schule nicht regelmäßig besuchen können. Bei anderen seien Hör- oder Sehschwächen zu spät erkannt worden.
     Entscheidenden Einfluß hätten aber Familien und Schulen. Kinder aus Elternhäusern, in denen nicht gelesen werde, hätten keine Vorstellung davon, wie wichtig Lese- und Schreibkenntnisse seien, so Hubertus. Und in Schulen werde nicht den unterschiedlichen Leistungen aller Kinder entsprochen.
     Einen bundesweiten Service für Menschen mit Lese- und Schreibproblemen bietet das ALFA-Telefon. Es informiert anonym über Lernmöglichkeiten vor Ort: jeden Mittwoch von 16 bis 22 Uhr unter in 0251 153 33 44. Weitere Informationen gibt der Bundesverband Alphabetisierung e.V., Goebenstr. 13, 48151 Münster, in 0251 52 27 95.