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Brieffreunde:Vertraute Fremde

Brieffreunde: Vertraute Fremde

Brieffreundschaftsanzeigen sind der große Renner. Auch in Junge Zeit. Beate Fuhl wollte wissen, was Brieffreunde so begehrenswert macht.

11    So einfach könnte es gehen: Statt Briefbogen um Briefbogen vollzuschreiben und
2 über Formulierungen zu grübeln, ein Griff zum Hörer, eine Nummer gewählt - fertig!
3 Doch allen Unkenrufen (1) zum Trotz hat das Telefon den Postboten nicht arbeitslos
4 gemacht, Briefeschreiben ist wieder »in«, Und besonders beliebt sind Brieffreunde,
5 Menschen, die man nur »brieflich« kennt.
26    »Bei mir hat sich das Hobby ganz zufällig ergeben«, erinnert sich Martin. »Ich habe
7 ganz spontan auf eine Brieffreundschaftsanzeige geantwortet, die mich sehr angesprochen
8 hat.« Daß er keine Antwort bekam, wurmte den 15jährigen so sehr, daß er selbst eine
9 Anzeige in Junge Zeit aufgab. Der Erfolg hat ihn schier umgeworfen: 15 rege Briefwechsel
10 wurden daraus, mit drei Mädchen aus Österreich und Deutschland tauscht er immer noch
11 regelmäßig seine Gedanken, Erlebnisse und Erfahrungen aus. Vom Adressenaustausch mit
12 Urlaubsbekanntschaften hält der erfahrene Briefverfasser nichts, »denn das klappt nie nach
13 einer Weile schläft die Sache immer ein.«
314    Auch die 17jährige Monika hat eine eigene Brieffreundschaftsanzeige aufgegeben.
15 Unter der Flut der Antwortschreiben mußte sie erst einmal einige aussortieren: einen
16 Heiratsantrag aus Algerien und zwei Briefe von Herren, die eindeutig mehr wollten als
17 eine reine Brieffreundschaft. »Aber damit muß man bei einer Anzeige rechnen«, sagte sie
18 trocken. »Es waren auch viele Zuschriften aus Jugendvollzugsanstalten dabei, woraus sich
19 gute Brieffreundschaften entwickelten, aber nach der Haft brach der Kontakt ab.«
420    Erich sitzt gerade in Haft. Weil sich seine früheren Freunde von ihm losgesagt
21 haben, war in der ersten Zeit sein Vater, der ihn zweimal im Monat besucht, sein einziger
22 Kontakt zur Außenwelt. Deshalb gab er eine Anzeige auf. »Ich suchte von Anfang an
23 jemanden, der keine Vorurteile gegen Gefangene hat, und bekam massenweise Post.«
24 Viele schrieben jedoch nur aus reiner Neugierde. Drei Brieffreundinnen blieben
25 schließlich übrig. »Mit denen komme ich total gut aus, weil jeder dem anderen seine
26 Probleme anvertrauen kann. Es ist einfach gigantisch, diese Briefe machen mir das Leben
27 hier viel leichter.« So anerkannt zu werden, wie er ist, hilft Erich nicht nur über die
28 Haftzeit hinweg, sondern auch für später - wieder draußen: Er weiß jetzt, daß er in der
29 Gesellschaft neben Ablehnung auch Hilfe und neue Freunde finden kann.
530    Viele »unbrauchbare« Zuschriften wollte Lissy von vornherein ausschließen. Die
31 begeisterte Cello- und Klavierspielerin hat sich in ihrer Suchanzeige »ganz präzise
32 ausgedrückt, damit sich auch nur wirklich ernsthaft Interessierte bei mir melden«,
33 Witzigerweise schrieben ihr nur Mädchen, und alle blieben bis heute bei der Stange. »Wir
34 tauschen Alltagssachen und Probleme aus, über die man mit Gleichaltrigen einfach besser
35 sprechen kann«, verrät die 15jährige über ihre Briefgeheimnisse. Und über viele Dinge
36 fällt es leichter zu schreiben, als zu reden. Denn der Schreibpartner in der Feme hat zwar
37 oft dieselben Sorgen, sieht das Problem aber trotzdem aus der Distanz, weil er nicht, wie
38 die Freundin vor Ort, darin verwickelt ist. Mit ein Grund, warum Brieffreundschaften oft
39 dicker und inniger sind und auch länger halten als direkte persönliche Kontakte.
noot 1
Unkenruf =sombere voorspelling

Junge Zeit, Januar 1992