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Ost-West

Ost-West

Zwei Jahre nach der Wiedervereinigung wollte BRAVO wissen: Wie unterschiedlich leben junge Leute im Osten und Westen. Wir fragten zwei junge Pärchen: Anja (15) und Andreas (16), Sandra (15) und Pavel (16) geben verblüffende Antworten.

11    Berlin-Marzahn, 7.50 Uhr morgens: Wenn Andreas und Anja zur Schule gehen,
2 sehen sie kaum einen Baum, selten Grünflächenader Sträucher am Wegrand. [id:76057]
3 ist ihre Umgebung. Sozialistische Einheitsarchitektur, oft hochgezogen bis über 20
4 Stockwerke. Die 4. Gesamtschule, in der beide ihre mittlere Reife machen wollen, hat zwar
5 nur vier Stockwerke, wirkt ab er nicht weniger trist.
26    Der Unterricht wurde hier mittlerweile dem Westlehrplan angeglichen, aber, so
7 Andreas: »Viele unserer Lehrer blicken weder mit den neuen Lehrmethoden noch mit der
8 geänderten Notengebung (früher gab es nur fünf Noten, jetzt ein Noten/Punktesystem)
9 durch. Und wenn schon die Lehrer [id:76058], wer kann es uns dann verübeln, wenn wir
10 nichts mehr verstehen?«
311    20 Kilometer westlich, Stadtteil Berlin-Charlottenburg: Auch Pavel und Sandra
12 gehen um 7.50 Uhr zur Realschule. Das große backsteinrote Gebäude, umgeben von einer
13 Birkenallee, leuchtet zwischen hübschen Altbauten heraus. Die Klassenzimmer: hoch, hell
14 und freundlich - hier hat [id:76059] nichts verändert. Pavel: »Wer nicht lernt, fällt eben
15 durch, bekommt keine Lehrstelle. Das war schon immer so und wird immer so sein.«
416    Was für Pavel [id:76060] scheint, ist für Andreas und Anja neu. Der Staat
17 garantierte vor der Wiedervereinigung jede Lehrstelle. [id:76061] gab es offiziell keine.
18 Das Ergebnis: »Wir haben alle Zukunftsangst, weil es schwer ist, auf dem freien Markt
19 Arbeit zu finden.«
520    Inzwischen ist es Mittag. [id:76062] Andreas und Anja zur »Schulspeisung« in die
21 weiß getünchte Kantine verschwinden, gehen Pavel und Sandra nach Hause, essen, was
22 Pavels Mutter liebevoll zubereitet hat. Danach werden in Pavels Zimmer Hausaufgaben
23 gemacht.
624    Wenn Andreas und Anja [id:76063] gegen 16.30 Uhr in sein Zimmer im 17.
25 Stockwerk eines anonymen Ost-Plattenhochhauses gehen, kümmern auch sie sich
26 zunächst mal um ihren Lehrstoff. Andreas sitzt dabei auf dem Bett, über das er drei
27 BRAVO-Poster gehängt hat, während Anja es sich auf dem Boden bequem gemacht hat.
728    Wenn Andreas und Anja Freitagabend ihre Schulaufgaben beendet haben, gehen sie
29 in ihren Stammjugendclub »Renner«, der einige Monate wegen einer Messerstecherei
30 geschlossen war.
831    Da das Freizeitangebot [id:76064] ist, gehen Andreas und Anja einfach »einen
32 heben«, Ihnen fehlt jeder Antrieb, selbst etwas auf die Beine zu stellen. Deshalb finden sie
33 auch nur selten den Weg in Pavels und Sandras Welt. Früher schrieb der Staat [id:76065] ja
34 sogar weitgehend vor. Alte Gewohnheiten lassen sich eben nicht so schnell abbauen wie
35 die Steine, die früher einmal die Mauer waren.
936    Pavel und Sandra haben diese Probleme nicht. Charlottenburg hat eigentlich alles,
37 was man sich so wünschen kann. Vom Kino, über Discos bis hin zu Restaurants. Außerdem
38 haben die beiden [id:76066] gelernt, mit ihrer Freizeit umzugehen.
1039    Die Ziele der vier jungen Leute [id:76067], auch was den Beruf angeht. Während im
40 Osten Idealismus noch groß geschrieben wird, steht im Westen Selbstverwirklichung und
41 Geld verdienen im Vordergrund. Anja beispielsweise will einen Beruf ergreifen, in dem sie
42 Tieren helfen kann, Andreas möchte in der Bundeswehr seinem Land dienen. Pavel
43 dagegen strebt [id:76068] eine Lehre als Bankkaufmann an, während seine Freundin »zur
44 Selbstverwirklichung« irgend etwas mit Design machen will.
Bravo, Nr. 7, 11.2.1993