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Eine Überdosis Sport

Eine Überdosis Sport

11    Nach knapp vier Kilometern Schwimmen steigen sie aus dem Wasser und
2 schwanken wie beschickert an den Helfern vorbei. Beim Binden der Radschuhe rutschen
3 die Finger vor Kraftlosigkeit an den Schnürsenkeln ab.
24    Nach 180 Kilometern auf dem Rad haben sie Schmerzen. Sie wollen sich hinlegen,
5 wünschen sich den Tag zu Ende.
36    Nach 30 Kilometern Lauf - was heißt hier Lauf? - sehen sie aus wie wandelnde
7 Leichen. Blicklose Augen, deformierte Waden, vollgesabberte Trikots. Sie sind Bilder des
8 Jammers. Aber sie müssen weitermachen. Noch zwölf Kilometer. Sie müssen durchhalten.
49    Müssen? Freiwillig haben sie am letzten Samstag im Juli alles auf sich genommen.
10 »Europameisterschaft im Triathlon« heißt die Veranstaltung und findet im fränkischen
11 Roth statt: Wer dabeisein will, muß nicht nur seinem Körper eine Menge zumuten wollen,
12 sondern auch noch 105 Mark Startgeld aufs Konto der Veranstalter überweisen.
513    Sie haben's gern getan, die 750 Damen und Herren aus der Triathleten-Zunft. Sie
14 haben sich drauf gefreut, an diesem Samstag die Schmerzen eines »Ultras« - so heißt es,
15 wenn es in diesem Sport über die ganz großen Distanzen geht - auf sich zu nehmen. Als
16 wäre es die alltäglichste Sache der Welt, nonstop 3,8 Kilometer zu schwimmen, 180
17 Kilometer zu radeln und einen Marathon runterzureißen.
618    Alltäglich ist es zwar nicht für sie, aber als etwas Außergewöhnliches empfinden sie
19 einen »Ultra« auch nicht.
720    Es ist eine Epidemie. Überall leben die Sportsfreunde ihre Exzesse aus. Zwischen
21 dem europäischen Festland und der britischen Insel durchkraulen Langstreckenschwimmer
22 im Monatstakt den Kanal, in den Wüsten der Welt stillen Dauerläufer ihren Durst nach
23 dem ganz großen Abenteuer, in Nepal radeln die »Biker« von einem Hoch zum nächsten,
24 in Grönland stehen sie Schlange, um das Packeis zu packen.
825    Es ist eine Flucht aus dem Alltag. Diese Sportler rennen vor der einen
26 Leistungsgesellschaft weg - und landen, Wettkampf ist Wettkampf, gleich in der nächsten.
27 Sie setzen in ihrer Freizeit fort, was sie aus dem Alltag kennen: Rush-hour-Geschiebe,
28 Ellbogen-Rempelei, atemlose Hatz auf die guten Plätze. In gut fünf Jahren ist die Zahl der
29 Triathleten von null auf 20 000 hochgeschossen. Und das obwohl der gesunde
30 Menschenverstand eigentlich gegen derartige Aktivitäten revoltieren müßte.
931    Gesund, so wird sich der vernünftige Zuschauer in Roth gesagt haben, kann so ein
32 Triathlon nicht sein.
1033    Und wenn's auch erwiesenermaßen ungesund wäre, sie würden es nicht lassen
34 können. Der Sportler, der sich in Roth über die Strecke quält, hat die Herrschaft über den
35 eigenen Willen verloren. Er treibt Triathlon, weil die Sucht Sport ihn treibt.
1136    Er gewöhnt seinen Körper an die tägliche Überdosis Sport. Trainiert bis zu 30
37 Stunden pro Woche - sonst hat ja das Training keinen Sinn. Horcht in sich hinein, ob auch
38 kein Muskel pikst, füttert sich packungsweise mit Pillen ab, die den ausgebeuteten Körper
39 wieder auf Vordermann bringen sollen. Denn er muß wieder trainieren - sonst hat das ja
40 keinen Sinn.
1241    Es hat denn auch gar keinen Sinn, dem richtigen Triathleten klarzumachen, daß er
42 auf einen ziemlich schrulligen Trip geht, wenn er sein Leben durch den Sport bestimmen
43 läßt. Wer Befriedigung darin gefunden hat, von Veranstaltung zu Veranstaltung zu hetzen,
44 Training an Training zu reihen, der hat für die Spötteleien der sogenannten Normalen nur
45 noch ein Lächeln übrig. Was verstehen die denn von den Lusterlebnissen, die er durch den
46 Sport erfährt?
Stern, 4.8.1988