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Die Hände sehen alles

Die Hände sehen alles

11    Jeden Morgen um kurz vor sieben verläßt Elmar Dosch (28) seine kleine Wohnung
2 in München-Schwabing, geht zur nächsten Straßenbahnhaltestelle, fährt vier Stationen,
3 steigt um in die S-Bahn, fährt noch eine Station weiter und sitzt um kurz vor halb acht an
4 seinem Computerarbeitsplatz. Nichts besonderes also - und genau das erfüllt den jungen
5 Mann [id:76546]: Denn Elmar Dosch ist blind.
26    Schon als Kind stark sehbehindert, verlor er vor neun Jahren [id:76547]. Doch zu diesem
7 Zeitpunkt hatte der Programmierer schon gelernt, sich in seiner Welt blind
8 zurechtzufinden: Mittlere Reife an einer Stuttgarter Schule für Blinde und Sehbehinderte,
9 dann eine Ausbildung zum Programmierer im Heidelberger Berufsförderungswerk.
310    Jetzt [id:76548] Elmar Dosch im Zentrum für Beratung, Information und Textservice
11 (BIT) des Blindenverbands in München.
412    In der Bundesrepublik leben 80000 blinde Menschen. Nur jeder dritte [id:76549].
13 Arbeit, genauer: ein Arbeitsplatz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ist gerade für Blinde
14 der Schlüssel zur gesellschaftlichen Anerkennung.
515    Bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts lebten die meisten Blinden in Anstalten
16 oder wurden von ihrer Familie betreut und versorgt. Erst in den letzten Jahrzehnten ist es
17 blinden Menschen [id:76550] spezieller schulischer Betreuung und einer qualifizierten
18 Ausbildung möglich, ein selbständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen.
619    Das verlangt dem Blinden viel Kraft und Mut ab, doch gibt es [id:76551], die ihm den
20 täglichen »Kampf« erleichtern: Die rund 100 Mobilitätstrainer - ausgebildete
21 Blindenbetreuer - in der Bundesrepublik üben mit ihnen das richtige Verhalten im
22 Verkehrsdschungel ein, erarbeiten Zentimeter für Zentimeter den täglichen Weg zur
23 Arbeit, zum Einkaufen, zum Arzt.
724    Elmar Dosch »sieht« mit seinen Händen, Ohren und seiner Nase: »Mit meiner
25 Trainerin schaute ich mir in aller Ruhe einen V-Bahn-Wagen und eine Straßenbahn von
26 innen an. Ich habe gelernt zu hören, wann eine Fußgängerampel grünes Licht gibt. Und
27 ich rieche einen U-Bahn-Schacht schon von weitem.«
828    Wally Kirchhauser (54), Inhaberin einer Massagepraxis und eines Hotels in
29 Augsburg, ist seit ihrer Geburt blind: »[id:76552] war es immer zu zeigen, daß blinde
30 Menschen ebensoviel leisten können wie sehende.« Und Wally Kirchhauser ist mit ihrem
31 Selbstbewußtsein und Durchsetzungsvermögen dafür der beste Beweis. Doch ohne
32 Mitarbeiter gerade im Hotel, denen sie vertrauen kann, wäre die Arbeit [id:76553].
933    Blinde Menschen seien von Natur aus [id:76554], sagt Wally Kirchhauser. Doch ist es für
34 blinde Menschen geradezu überlebensnotwendig, Vertrauen zu fassen, der Hand zu
35 trauen, die sie führt. Selbständigkeit und gleichzeitig Vertrauen in die Hilfe anderer
36 Menschen ist für viele Blinde eine Gratwanderung zwischen Eigenständigkeit und
37 Abhängigkeit. Der Beruf fördert das Selbstbewußtsein und Zutrauen in die eigenen
38 Fähigkeiten.
Weltbild 30.06.1989