1 | 1 | | Im Stadtzentrum geht mal wieder der Punk ab. Es ist Samstag, verkaufsoffener |
| 2 | | Samstag - für all jene, die auf Ruhe und wenig Hektik Wert legen, ist ein solcher Tag fast |
| 3 | | eine Katastrophe. Für einen Straßenkünstler wie Albrecht Winkler sind Einkaufs- und |
| 4 | | Touristenrummel dagegen der ideale Nährboden. Seelenruhig steht er auf dem Trottoir, |
| 5 | | eingekeilt zwischen vorbeihetzenden Passanten, den Kleiderständern einer Boutique und |
| 6 | | der lärmenden Straße. Albrecht Winkler ist nicht allein - bei ihm sind Joschi, der Geiger, |
| 7 | | und ein dunkles pelziges Etwas, das sich bei näherem Hinsehen als Hund entpuppt. Joschi |
| 8 | | ist eine Marionettenfigur, die sein Herr und Meister zu klassischer Musik aus einem |
| 9 | | Radiorekorder bewegt, der Hund ist echt. |
2 | 10 | | Albrecht Winkler ist oft an diesem Platz am Berliner Kurfürstendamm zu finden. |
| 11 | | Hier wohnt er und hier läßt er Joschi an den Fäden zappeln. Die Puppe kommt an: Die |
| 12 | | Leute zücken immer wieder den Geldbeutel, um den braunen Zylinderhut auf dem |
| 13 | | Gehweg zu füllen. |
3 | 14 | | Jetzt eine kleine Zigarettenpause. Joschi kann sich ausruhen, der Hund geht allein |
| 15 | | Gassi, und Albrecht Winkler erzählt, daß er das Geschäft erst seit zwei Monaten betreibt, |
| 16 | | weil »das die einzige bequeme legale und genehmigungsfreie Möglichkeit ist, ein paar |
| 17 | | Mark zu verdienen.. Wie kommt überhaupt jemand dazu, als Straßenkünstler aufzutreten, |
| 18 | | sich an den Straßenecken, U-Bahn-Eingängen oder zentralen Plätzen die Füße in den |
| 19 | | Bauch zu stehen? Bei Albrecht Winkler war es eine finanzielle Notlage, wie er selbst sagt. |
| 20 | | Zuvor hatte er sich die Marionetten-Nummer bei einem Freund abgeschaut, den Joschi |
| 21 | | gebastelt und gleich ein Debüt vor einem Millionenpublikum gehabt. Das war als Thomas |
| 22 | | Gottschalk bei seiner »Wetten daß«-Sendung in Berlin Bauchredner für die Saalwette |
| 23 | | gesucht hatte. Der Auftritt hat Albrecht Winkler und Joschi zwar ein bißchen berühmt, |
| 24 | | aber nicht so reich gemacht, daß er deshalb nicht mehr am Kurfürstendamm auftreten |
| 25 | | müßte. Und damit deckt er schließlich seine Miete und seinen Lebensunterhalt. |
4 | 26 | | Unweit von der Gedächtniskirche gehen Ingo und Silvia ihrem Geschäft nach. |
| 27 | | Knien wäre eigentlich exakter, denn die beiden sind Pflastermaler, was man allein beim |
| 28 | | Anblick ihrer kreideverschmierten Hände erkennt. Vom Kunstwerk selbst ist im Moment |
| 29 | | noch nicht allzuviel zu erkennen. Lediglich der lila Rahmen und die in Quadrate |
| 30 | | aufgeteilte Fläche und ein paar farbige Stellen lassen erahnen, daß es bald mehr zu sehen |
| 31 | | gibt, |
5 | 32 | | Was es überhaupt mal werden soll? Ingo zeigt mir die Postkarte, die sie als Vorlage |
| 33 | | verwenden. »Mädchen am Fenster« von Tamara Tampika. Auf die Malerin haben sich die |
| 34 | | beiden spezialisiert. |
6 | 35 | | Ingo, er ist Berliner, und Silvia, eine Costa Ricanerin, leben von ihrer Kunst, bessern |
| 36 | | ihre Finanzen nur ab und zu noch durch Aushilfsarbeiten auf. Ingo hat die Kunst vor zwei |
| 37 | | Jahren von einem Freund abgeschaut. Fast schon eine Pflastermaler-Lehre! Ingo wußte |
| 38 | | daher schon von Anfang an, was es bedeutet, den Fulltime-Job eines Straßenkünstlers zu |
| 39 | | haben: Eine Existenz ohne fest kalkulierbares Einkommen (über ihren Verdienst verraten |
| 40 | | die beiden nur »nicht schlecht«), ohne zu wissen, was am nächsten Tag sein wird. Aber er |
| 41 | | schätzt die Freiheit, ohne Rücksicht auf Arbeitgeber und sonstige Zwänge Stadt und Land |
| 42 | | den Rücken zu kehren, um, wie Ingo und Silvia das gelegentlich tun, mal nach Costa Rica |
| 43 | | zu reisen. |
7 | 44 | | Währenddessen nimmt sich Silvia die kleine Postkarten-Vorlage zur Hand und |
| 45 | | verwischt mit der Hand ein paar Farben. Noch lange ist an Feierabend nicht zu denken. |
| 46 | | Erst morgen werden die beiden mit ihrem Gemälde fertig. Und das bedeutet wie in manch |
| 47 | | anderem Job: früh aufstehen. Denn sonst zertrampeln die Passanten das angefangene Bild |
| 48 | | und machen so die Arbeit vom Vortag wieder zunichte. |