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»Gift im Essen? leh hab's langsam satt«

»Gift im Essen? leh hab's langsam satt«

11    »Das kaufen Sie noch?« fragte eine Frau die andere am Marktstand, als diese nach
2 dem Hasen griff. Der Arm mit der Beute geriet ins Schwanken. Warum denn nun auch
3 keine Hasen mehr? »Aber hören Sie! Der hat doch Tag und Nacht nichts als überdüngtes
4 Unkraut gefressen! Mindestens die Leber würd' ich wegwerfen.«
5 Dies Spiel könnte man allmählich täglich mit fast allem treiben, was wir uns zum
6 Essen und Trinken kaufen. Das Fette ist nicht nur gefährlich, weil es fett ist, sondem weil
7 sich im Fett zwischen den Muskelpaketen die Giftstoffe ablagern. Der Kohl ist nicht nur
8 gefährlich, weil er bläht, sondem weil seine äußeren Blätter starr von Blei und Cadmium
9 sind.
210    Essen ist immer auch Risiko. Davor kann uns nichts außer der eigenen Vorsicht (und
11 in manchen Fällen Sachverstand) retten. Auch kein Schild mit »biologisch«, das uns
12 suggerieren solI, man könne einen Elfenbeinturm um die Kartoffeln errichten oder einen
13 Schirm über den Kirschbaum spannen, um die Früchte vor dem zu bewahren, was
14 ringsherum Regen und Wind gleichermaßen auf Gerechte und Ungerechte herabrieseln
15 lassen.
316    Wenn sich Mineralstoffe aus Kanada und Europa im Schnee der Arktis wiederfinden,
17 wenn sich Metalle und Säuren aus west- und ostdeutschen Kaminen auf schwedische
18 Tannen senken - was nützt dem Schrebergärtner dann sein selbstgezogener Kohlrabi?
19 Was nützt mir das Schild »Ohne chemischen Dünger«?
420    Gewiß, es ist immer leichter, sich in ein kleines grünes Idyll zurückzuziehen und an
21 die eigenen Radieschen zu glauben. Dann hat man wenigstens etwas, das man guten
22 Mutes meint, zwischen den Zähnen krachen lassen zu können. Weiter hilft das Idyll aus
23 Beschränktheit und Eigensucht kaum: »Laß doch die Welt versauern, Hauptsache, ich
24 halte mir meine Tomaten rein!«
525    Was aber sonst tun? Frivol auf das Gift pfeifen, wenn es nur kulinarisch vertretbar
26 zubereitet wird? Wir müssen uns täglich entscheiden, denn essen muß der Mensch, und
27 das war jahrtausendelang kein Problem, sofern man etwas zu essen kriegte. Mißernten,
28 vom Krieg verwüstete Felder, Seuchen und Naturkatastrophen riefen immer wieder
29 Hungersnöte hervor.
630    Da heute keiner hungern solI und wir im satten Westen aufs Wohlleben nicht
31 verzichten wollen, akzeptieren wir Gift im Essen. Es gäbe also Gift in Fisch und Fleisch?
32 Ja sicher. Aber ich habe keine Angst davor. Ich esse nicht deshalb Nüsse und Körner, weil
33 ich dem Schnitzel und dem Salat mißtraue. Ich esse Nüsse und Körner, weil sie mir
34 schmecken. Und ich unterhalte mich mit meinem Schlachter über die Schnitzel von
35 Schwein und Kalb.
736    Man solI prüfen, und man kann prüfen. Das muß man sich nicht von Tugendwächtern
37 und Besserwissern abnehmen lassen. Und man braucht sich nicht die Lust am guten Essen
38 vermiesen zu lassen. Das andere, die Folgen unserer Maßlosigkeit, ist ein ganz anderes
39 Thema.
Zeitmagazin, 26.11.1982