Background image

terug

Frau Mittermaier, Spitzensport

Frau Mittermaier, Spitzensport - sollen Ihre Kinder da mitmachen?

11    Der Knirps in dem blauen Skianzug düst den kleinen Hang auf seinen kurzen
2 Brettern hinunter, als ginge es um den Abfahrtssieg auf der legendären Streif. »Ski
3 fahren«, sagt seine Mutter und lächelt stolz, »kann der Bub. Der ist ein Wilder, schon
4 immer gewesen.« Der Bub ist fünf und heißt Felix. Außer Felix, dem Wilden, ist da noch
5 Amelie, acht, die Sanfte. Sie läuft lieber Schlittschuh statt Ski und spielt Klavier. Die
6 Mutter ist Rosi Mittermaier, 39. Bei den Olympischen Spielen 1976 in Innsbruck gewann
7 sie zwei Goldmedaillen und eine silberne dazu. Für sie war's der Höhepunkt ihrer
8 Karriere. Und obendrein die stolze Entschädigung dafür, daß sie dem Sport das Wichtigste
9 opferte, das es im Leben eines Menschen gibt: die Jugend. Ein gefährliches Spiel: Nicht
10 jeder steckt die hohen Anforderungen, die eine normale Entwicklung des Menschen
11 verhindern können, so gut weg wie Rosi. Ein Gegenbeispiel: Björn Borg, 33, der frühere
12 Tennisstar, sucht noch immer sein Ziel im Leben. Was also spricht für, was gegen das
13 große Engagement im Spitzensport? Rosi Mittermaier schildert ihre persönlichen
14 Erfahrungen. Ihre positiven:
215    Erstens: »Das Skifahren ist wie eine Sucht. Du bist oben am Berg, wo die Luft noch
16 sauber ist. Du schwingst wie schwerelos durch den Tiefschnee, Oder rast in einem
17 atemberaubenden Tempo zu Tal. Ein unbeschreibliches Gefühl.«
318    Zweitens: »Die Reisen. Du siehst so viel von der Welt. Viel mehr, als die meisten
19 deiner Altersgenossen in ihrem ganzen Leben kennenlernen. Das erweitert den
20 Horizont.«
421    Drittens: »Die Kameradschaft. Wenn du dauernd aufeinander-hockst, raufst du dich
22 zusammen. Du lernst verschiedene Charaktere respektieren. Schraubst eigene Ansprüche
23 zurück, wirst aber bei Schwierigkeiten aufgefangen.«
524    Viertens: »Der Nervenkitzel vor dem Start. Etwas Aufregenderes gibt's im Leben
25 nicht.« Ihre negativen Erfahrungen:
626    Erstens: »Die Verletzungsgefahr. Schon mit 13 hatte ich den ersten doppelten Bruch.
27 Brüche kommen so häufig vor, die mußt du hinnehmen wie andere Leute Schnupfen.«
728    Zweitens: »Neid der Kolleginnen. Gerade am Anfang, wenn du das Küken bist, aber
29 besser als Ä1tere . Da gibt dir keiner einen Rat, wirst du vom Gespräch ausgeschlossen.«
830    Drittens: »Der fast militärische Trainings-Alltag. Kein Bummel mit den Freunden,
31 kein Kino, keine Disco. Sondern: um halb sechs aufstehen. Laufen. Gymnastik. Frühstück.
32 Rauf auf den Gletscher zum Training. Mittag. Massage. Training. Turnhalle. Kraftraum.
33 Abendessen. Schlafen.«
934    Viertens: »Der Presserummel. Die anderen Leut' können sich frei bewegen. Du wirst
35 überall beobachtet. Den Druck bekommst du selbst am Start kaum aus dem Kopf: Ein
36 kleiner Fehler, und sie zerreißen dich.«
1037    Die Frage, ob Eltern ihre Kinder zum Spitzensport ermuntern sollen, ist mit den
38 Erfahrungen der Rosi Mittermaier längst nicht beantwortet. »Jede Mutter, jeder Vater«,
39 sagt sie, »alle Eltern müssen sehr genau die charakterlichen Fähigkeiten ihres Kindes
40 einschätzen. Tränen fließen auf jeden Fall auf dem Weg nach oben. Aber ich würde, wenn
41 sie es wirklich wollten, diesen Weg mit meinen Kindern gehen.«
Hörzu, 2.3.1990