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Trocken durch die Nordsee

Troeken dureh die Nordsee

11    Von Zeit zu Zeit werden »Beruhigungspillen« ausgegeben. Wenn die ganze
2 Angelegenheit mal wieder zu sehr an den Nerven zerrt. Doch sie sind nicht fUr die
3 Arbeiter bestimmt, die am derzeit größten Tiefbauprojekt der Welt, dem Eisenbahntunnel
4 unter dem Ärmelkanal, werkeln und vielleicht unter Platzangst leiden. Beruhigungsmittel
5 brauchen vielmehr die Aktionäre der »Eurotunnel AG«, die ob der laufend steigenden
6 Kosten des Jahrhundertwerkes um dessen Fertigstellung bangen.
27    Die letzte Pille dieser Art gaben die Geschäftsführer von Eurotunnel, der Brite
8 Alastair Morton und der Franzose André Bénard, erst Anfang Februar in Form einer
9 Pressekonferenz in London aus. Ihre Botschaft: Eurotunnel hat die Finanzen voll im Griff.
10 Die Gesamtkosten werden maximal7,S Milliarden Pfund, rund 21 Milliarden Mark,
11 betragen (zum Vergleich: Ende 1987, als die Bauarbeiten begannen, hatte man mit nur
12 4,87 Milliarden Pfund gerechnet). Und die 209 Banken würden den finanziellen
13 Mehrbedarf mit neuen Krediten decken. Es bleibe beim anvisierten Termin der
14 Fertigstellung: Im Juni 1993 sollen die ersten Züge durch die SO Kilometer langen Tunnel
15 fahren.
316    Wieder einmal scheint eines der häufiger auftretenden Finanzierungsprobleme gelöst,
17 das Gespenst eines Baustopps und einer milliardenschweren Fehlinvestition gebannt. In
18 der Nordsee, rund vierzig Meter unter dem Meeresboden, kann weiter gebohrt werden.
19 Für die Eurotunnel AG ohnehin pure Selbstverständlichkeit, schenkt man ihren
20 Hochglanzprospekten Glauben: »Die Zeit ist reif für den Eurotunnel! Wir brauchen ihn,
21 um im 21. Jahrhundert zu überleben.«
422    Um dieses Überleben sind derzeit an die zehntausend Arbeiter bemüht. Sie sorgen
23 dafür, daß sich zwischen Calais in Frankreich und dem britischen Folkestone ohne
24 Unterlaß riesige Bohrmaschinen weiter in die Kreidemergel-Schicht fressen. Von 0 bis 24
25 Uhr, an sieben Tagen.
526    Diese Maschinen sind technische »Monster«: Über zweihundert Meter lang, bald
27 sechs Meter Durchmesser, vier Öldruckmotoren mit insgesamt 2400 PS treiben sie an.
28 Raupen gleich bewegen sich die Riesenapparate weiter. Von englischer und französischer
29 Seite graben solche Bohrmaschinen aufeinander zu. Vier Meter schaffen sie in der
30 Stunde - müssen sie schaffen, soll der Tunnel tatsächlich in dreieinhalb Jahren eröffnet
31 werden. Zeitdruck ist auch dafür verantwortlich, daß die Riesen-Bohrer, wenn sie sich
32 Ende dieses Jahres treffen und damit ihr Auftrag erledigt ist, mitnichten abtransportiert
33 werden. Ingenieur Colin Kirkland: »Wahrscheinlich graben wir ein großes Loch, kippen
34 sie hinein und betonieren sie zu. Sie müssen aus dem Weg.«
635    Wenn dies passiert, ist der Wartungstunnel, die erste von insgesamt drei Röhren,
36 fertig. Mit dem Bau der beiden Haupttunnel, durch die eines Tages die Züge brausen, wird
37 1991 begonnen. »Unsere Pendelzüge werden im Zwölf-Minuten-Takt verkehren. Sie
38 fahren in Ihrem Auto direkt auf den wartenden Zug - ohne vorherige Buchung. Während
39 der 33 Minuten dauernden Überfahrt bleiben Sie in Ihrem Auto sitzen.«
740    Tatsächlich lassen sich gewichtige Argumente für den Kanaltunnel finden.
41 Großbritannien rückt näher an den Kontinent. Das Verkehrsaufkommen zwischen der Ex-
42 Insel und Frankreich wird zunehmen. Allein 700 Autos will Eurotunnel pro Stunde in die
43 Autoreise-Züge packen. Und das alles weitgehend unabhängig vom Wetter. Eine
44 stürmische Nordsee oder Nebel über London werden dann nicht mehr den Reiseverkehr
45 stoppen - wie heute noch Fähren und Flugzeuge. Die bringen derzeit rund 60 000
46 Menschen täglich ins Vereinigte Königreich beziehungsweise wieder zurück zum
47 Kontinent.
848    Auch die Aussicht, etwa von Frankfurt nach London in nur fünfeinhalb Zugstunden
49 statt der derzeit noch notwendigen neun reisen zu können, läßt nicht nur Touristenherzen
50 höherschlagen. Der Tunnel wird schließlich dazu beitragen, einen großen Wirtschaftsraum
51 von Mailand bis London zu schaffen. Wovon Unternehmer und Politiker profitieren.
Weltbild, April 1989