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Liebe auf den zweiten Blick

Die »Schwalbe« war für die DDR-Bürger ein unverwüstliches Arbeitstier. 22 Jahre lang baute der VEB Fahrzeug- & Gerätewerk im thüringischen Suhl das Moped fast unverändert. Im Westen wurde es nach der Wende zum Kultobjekt (von Matthias Zuber)

11    Es war Liebe auf den ersten Blick, Fasziniert starrte Klemens Holtwick auf die
2 sinnlichen Rundungen, bewunderte die zeitlose Eleganz, um dann liebevoll mit der Hand
3 über den kühlen Lack zu streicheln.
24    Nie mehr, das hatte er sich vor zehn Jahren geschworen, werde er auf ein
5 motorisiertes Zweirad steigen. Damals war Holtwick mit seinem Motorrad bei einem
6 Unfall um Haaresbreite dem Tod entgangen. Doch diese exotische Schönheit in
7 Saharagelb, die da nun vor ihm stand und den klangvollen Namen »Schwalbe« trug, sollte
8 ihn seinen Schwur vergessen lassen.
39    Holtwick setzte sich - es war kurz nach der Wende - auf den knatternden Flitzer aus
10 volkseigener Produktion und drehte ein paar Runden. Dann war's endgültig um ihn
11 geschehen. Die 3,4-PS-DDR-Antiquität wollte er auch haben. Inzwischen ist er
12 Vorsitzender des Schwalben-Clubs im münsterländischen Stadtlohn. 38 Mitglieder zählt
13 der Club in der nur 18000 Einwohner großen Stadt. »Es ist schon ein Phänomen«, wundert
14 sich Holtwick, »daß ausgerechnet hier im Westen dieses Moped so boomt.«
415    Die Herzen der Menschen im Westen eroberte der zweirädrige Klassiker nach der
16 Wende. Zu einer Zeit, als sich viele ehemalige DDR-Bürger möglichst fix von ihrer
17 Vergangenheit trennen wollten und von allem, was daran erinnerte. »Zu Spottpreisen um
18 hundert Mark konnte man die Dinger kaufen«, erzählt Holtwick, »doch das ist leider
19 Vergangenheit.« Inzwischen zahlt man für gebrauchte Maschinchen bis zu 4000 Mark
20 - West. In der DDR kostete die Standardversion 1265 Mark - Ost. Neu, versteht sich .
521    Holtwick fuhr dann sofort nach seiner ersten Begegnung mit der Schwalbe 1991
22 »rüber«, um sich eine zu kaufen. Zurück kam er gleich mit fünf der Vögel. Er reparierte sie
23 und verkaufte vier an Freunde in Stadtlohn. »Heute sind wir so etwas wie die Schwalben-
24 Hauptstadt, weil es hier in einem Umkreis von 30 Kilometern mindestens 400 davon gibt .«
625    Nachprüfbar ist die Behauptung nicht. Denn - dem Einigungsvertrag sei Dank - die
26 Schwalbe war nicht zulassungspflichtig. Und das, obwohl der 49,6-KubikzentimeterEinzylinder-
27 Zweitaktmotor sie mit 60 über den gesamtdeutschen Asphalt flitzen läßt und
28 laut Straßenverkehrszulassungsordnung für Kleinkrafträder bis zu 50 Kubikzentimeter nur
29 50 km/h erlaubt sind. Aber die Väter der Einheit wollten in diesem Punkt das
30 Zusammenwachsen der beiden Teile Deutschlands nicht unnötig erschweren.
731    Jens Konrad ist mit 17 Jahren das jüngste Mitglied im Schwalben-Club. Der
32 Elektroinstallateurs-Lehrling verbringt seine freie Zeit hauptsächlich mit seiner Simson
33 S 51. »Das ist zwar keine Schwalbe«, sagt Holtwick, »aber bis auf Rahmen, Tank und
34 Sitzbank ist die S 51 mit der KR 51 baugleich.« Das sei der große Vorteil der Simson-
35 Modelle: Man könne die meisten Teile untereinander austauschen. Neben Jens sitzt Anja
36 Koop, natürlich auch Schwalbe-Pilotin, außerdem Arzthelferin und Inhaberin des vom
37 Schwalbe-Club verliehenen Wanderpokals. Den errang sie bei der letzten
38 Geschicklichkeitsfahrt. »Für mich ist die Schwalbe in erster Linie aber ein preiswertes
39 Fortbewegungsmittel«, sagt Anja, die jeden Tag damit zur Arbeit fährt. Maximal 3,5 Liter
40 Gemisch schluckt der Blechvogel aus Suhl auf 100 Kilometer. Und die Versicherung kostet
41 gerade 100 Mark im Jahr. »Das ist billiger, als die eigenen Schuhsohlen abzuwetzen«.
842    Inzwischen hat es in Stadtlohn angefangen zu regnen. Anja und Jens sind auf dem
43 Weg nach Hause. Auch Klemens Holtwick will noch mal los. »Es gibt kein schlechtes
44 Wetter, sondern nur unpassende Klamotten«, sagt er, zieht mit einem Ruck den
45 Reißverschluß der Regenjacke hoch und schwingt sich auf seine Schwalbe.
aus: Stern