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Für drei Mark quer durch Deutschland

Für drei Mark quer durch Deutschland

11    Matthias Weiß aus Hamburg ist für 230 Mark mit dem ICE nach München gereist,
2 um beim Börsenstammtisch im Hotel »Bayerischer Hof« heiße Neuigkeiten zu ergattern.
3 Dort trifft der 28jährige Student der Sozialwissenschaften, der leidenschaftlich gerne
4 spekuliert, den Börsen-Guru André Kostolany. Der 89jährige nimmt ihn zur Seite. Er hat
5 [id:75601] ganz besonderer Art: »Junge, da gibt es jetzt so ein Ticket, mit dem kommst du
6 für 15 Mark wieder nach Hause.«
27    So kauft sich Matthias Weiß für den Rückweg ein »Schönes-Wochenende«-Ticket.
8 Damit können maximal fünf Personen von Samstag 0.00 Uhr bis Sonntag 24 Uhr
9 bahnfahren, so oft und so weit sie wollen. [id:75602] mit Eil-, Regional- und
10 Nahverkehrszügen (Interregio, IC und ICE sind nicht erlaubt, S-Bahnen nur, wenn es das
11 Fahrziel erfordert).
312    Für drei Mark pro Person eine Gruppenfahrt kreuz und quer durch Deutschland -
13 so [id:75603] war Reisen noch nie. Fast 100 000 füllten allein am vergangenen
14 Wochenende die vorher leeren Bummelzüge auf den Nebenstrecken der Republik. Ob
15 Hamburg-München, Stuttgart-Berlin oder Dresden-Düsseldorf, fast jede Strecke ist an
16 einem Tag zu schaffen, wenn man nur [id:75604].
417    Tanja und sieben Freundinnen sind seit 5 Uhr unterwegs. Sie fahren mit [id:75605]
18 von Lübeck zum Konzert der irisch-amerikanischen »Kelly Family« nach Göttingen. »Die
19 Eintrittskarten waren schon teuer genug«, sagt die 16jährige Realschülerin.
520    Harry Leibold, Koch im Stuttgarter Zoo, fährt mit seiner Frau und seinen zwei
21 kleinen Töchtern nach Heidelberg. Sie wollen sich die Stadt mal anschauen. »Ich hab'
22 zufällig in der Zeitung von dem 15-Mark-Ticket gelesen. Da haben meine Frau und ich
23 spontan beschlossen: Wir machen einen Ausflug.« Ein Auto haben sie nicht. »Jetzt werden
24 wir uns [id:75606] kaufen.«
625    Volkssport Bahnfahren: Die HipHop-Band »Smile« reist von Osnabrück nach
26 Dingolfing, vier Leipziger Punks wollen Freunde in München besuchen, ein Rentner-
27 Ehepaar aus Sonthofen zuckelt zum Volksmusik-Treffen in Schwäbisch Gmünd.
28 »Das neue Angebot, das bis Jahresende gilt , ist vor allem für junge Familien,
29 Senioren und Vereine gedacht«, erläutert Hartmut Sommer, Pressesprecher der [id:75607]
30 »Noch ein paar 1000 Fahrgäste mehr pro Wochenende, und wir machen sogar Gewinn.«
731    Seit Anfang Februar sind vielerorts die Bummelzüge am Wochenende so voll, daß
32 zahlreiche Fahrgäste stehen müssen. Zwischen Bayreuth und Hof mußten einige sogar
33 [id:75608]. Auf dieser Strecke werden spezielle Triebwagen eingesetzt, die sich in den
34 zahlreichen Kurven nach innen neigen und deshalb höhere Geschwindigkeit erlauben. Am
35 Wochenende jedoch war diese »Neigetechnik« dem Gewicht der überfüllten Waggons
36 nicht mehr gewachsen.
837    Es ist eine Form des Reisens wie zu Kaisers Zeiten . Die Züge fahren langsam,
38 stoppen in kleinen Orten, deren Namen die wenigsten kennen: Bienenbüttel,
39 Guntersblum, Billerbeck.
940    Wer keine Verpflegung mitgebracht hat, muß [id:75609] . In den Eil- und
41 Regionalzügen gibt es keine Bistros oder Bord-Treffs. Kein Imbißwagen wird durch den
42 Gang geschoben. Selbst an großen Bahnhöfen haben die Kioske geschlossen, wenn 15Mark-
43 Reisende in der »toten Zeit« zwischen zwei und fünf Uhr morgens auf ihre
44 Anschlußzüge warten.
1045    Das Auskunftssystem der Bahn ist dem neuen Ansturm noch nicht gewachsen. Die
46 Fahrplan-Computer finden nur die [id:75610] Verbindung von A nach B. Eilzüge jedoch,
47 die oft große Umwege machen, müssen die Beamten in mühevoller Handarbeit aus dem
48 2500 Seiten dicken Kursbuch zusammensuchen. Erst in vier Wochen soll der Computer
49 ihnen diese Arbeit abnehmen können.
1150    »Nach München schaffen Sie es heute nicht mehr«, sagt der Mann gegen 18 Uhr im
51 Reisezentrum am Stuttgarter Hauptbahnhof. Sicher? »Hundertprozentig. Nur bis Ulm. Da
52 ist Schluß,« [id:75611]: Der Beamte am Informationsstand in der Bahnhofshalle findet
53 doch noch eine Verbindung - »nach München über Aalen, Ulm und Kempten«,
1254    Etwa 700 Kilometer weiter nördlich ist Jungspekulant Matthias Weiß endlich am
55 Ziel: Um 23.49 Uhr fährt sein Eilzug im Hamburger Hauptbahnhof ein.14 Stunden und
56 44 Minuten hat der Student gebraucht, sechsmal mußte er umsteigen, insgesamt 77 Stopps
57 hatten seine Züge eingelegt. Er ist müde, aber trotzdem zufrieden: »München-Hamburg
58 für 15 Mark, Wahnsinn. Der alte Kostolany weiß eben, wie man [id:75612].«
aus: Stern 10