| | | Mit den Wölfen heulen |
1 | 1 | | Den Kopf zum Himmel gereckt, sitzt Werner Freund im Morast und heult in die |
| 2 | | Dämmerung. Von irgendwoher antworten die Wölfe. Einer nach dem anderen, wie |
| 3 | | Sirenen bei einem Alarm. Schaurig schön - für den, der au/3erhalb de s Geheges in |
| 4 | | Sicherheit ist. |
2 | 5 | | Aber Freund hat keinen Maschendraht zwischen sich und den Wölfen. Er hockt |
| 6 | | mitten unter den Tieren. Wälzt sich mit ihnen im Schlamm, balgt mit ihnen ums Futter, |
| 7 | | schmust mit ihnen. Und bei/3t zurück, wenn die Tiere einmal grob werden. Bei seinen |
| 8 | | Wölfen wird der Mann au s Merzig im Saarland selbst zum Wolf. |
3 | 9 | | Freund, 53, ehemaliger Stabsfeldwebel¹', ist der Boss. Weil er die Sprache der Wölfe |
| 10 | | spricht. Weil er gelernt hat, sich den Regeln des Rudels anzupassen . Menschliches |
| 11 | | Mitleid zum Beispiel, das hat er sich als Wolf unter Wölfen abgeschminkt. Kein Wolf |
| 12 | | hätte Mitgefühl mit einem Verlierer. Wer bei den Rangkämpfen unterlegen ist, wird |
| 13 | | verjagt. Also bekommt der Besiegte auch von Freund keine Streicheleinheiten mehr. Nur |
| 14 | | so kann er sich im Rudel durchsetzen. |
4 | 15 | | Die Natur hat von jeher Freunds Leben bestimmt. Die Mutter kommt aus einer |
| 16 | | Försterfamilie, der kleine Werner geht lieber in den Wald statt in die Dorfschule. Er |
| 17 | | beobachtet, wie Füchse geboren werden, wie sich die Kleinen entwickeln und schliel3l ich |
| 18 | | ihre eigenen Wege gehen : »Da hab' ich zum ersten Mal begriffen, da/3 auch Tiere |
| 19 | | Individuen sind. « |
5 | 20 | | Freund macht nach dem Krieg eine Gärtnerlehre, verdingt sich beim Stuttgarter |
| 21 | | Zoo Wilhelma. Bald ist er dort bekannt für sein Geschick im Umgang mit den Tieren. Er |
| 22 | | ist es, der die Affen einfängt, als diese ausbüxen, eine Bäckerei ausräumen und einem |
| 23 | | armen Stuttgarter das Bettzeug zerfetzen. Freund bekommt einen Job als Tierpfleger und |
| 24 | | ein Zimmer im Zoo . |
6 | 25 | | Auf die Dauer fühlt der Tierpfleger Freund sich in der wohlorganisierten |
| 26 | | Schaufensterwildnis de s Zoos nicht wohl. Er hat keine Lust , nur den Gefängniswärter zu |
| 27 | | spielen und da s Fressen durch eine Klappe in den Käfig zu schieben. Auf Rat eines |
| 28 | | Freundes meldet er sich zum Grenzschutz, später zur Bundeswehr, als Fallschirmspringer. |
7 | 29 | | Den Urlaub nutzt er, um Expeditionen nach Asien, Afrika und Südamerika zu |
| 30 | | organisieren. Er lebt dort bei Naturvölkern, lernt das Überleben in der Wildnis. Sein |
| 31 | | Wissen gibt er bei der Bundeswehr an seine Rekruten weiter. Er bildet die Einzelkämpfer |
| 32 | | au s. |
8 | 33 | | »Das Bataillon braucht ein Maskottchen«, sagt der Kommandeur eines Tages zu |
| 34 | | ihm. Freund kauft einen jungen Bären. Er zieht in den Wald, lebt mit dem Bären in einer |
| 35 | | Höhle. |
9 | 36 | | Dann liest er eine Zeitungsanzeige : »Jugoslawische Wölfe au s Wildfang zu |
| 37 | | verkaufen, 400 Mark pro Tier. « Er besorgt sich einen Wolf, merkt aber bald, da/3 sich Bär |
| 38 | | und Wolf nicht riechen können. Freund gibt den Bären in den Zoo. |
10 | 39 | | Das war vor 14 Jahren. Heute hat Freund fünf Rudel Wölfe, ingesamt 22 Tiere. Die |
| 40 | | Wölfe sind längst keine Spielerei mehr, kein Zeitvertreib, kein Hobby. Freund will ihr |
| 41 | | Verhalten erforschen, ohne da/3 die Tiere ihre Eigenheit verlieren. Er hat ihnen die |
| 42 | | Wildheit nicht wegdressiert. Kein artiges Männchenmachen, kein Betteln. Freund will |
| 43 | | seine Wölfe nicht erziehen, also erzieht er sich. Er will nicht, da/3 sie halbe Menschen |
| 44 | | werden, also wird er ganzer Wolf. Mit Haut und Hirn. |