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In dem Eifeldorf

In dem Eifeldorf

11     In dem Eifeldorf Wallenborn blüht ein neuer »Wirtschaftszweig« auf: Der
2 27jährige Heilpraktiker Bernhard Schmidt betreibt dort eine Kräuterfarm und einen
3 weitreichenden Kräuter-Versandhandel. Er veranstaltet alljährlich Wochenendseminare
4 für Kräuterfreunde und profitiert damit von einem neuen Trend, den Ärzte und
5 Apotheker diagnostizieren: weg von den starken und schnell wirkenden Medikamenten
6 mit ihren oft schädlichen Nach- und Nebenwirkungen und wieder zurück zu den
7 altbewährten, sanften, menschenfreundlichen Mitteln aus dem Vorratsschrank der Natur.
8 Die Pharmaindustrie hat zwar scharfe Waffen gegen bisher unbesiegbare Krankheiten
9 entwickelt. Wer aber diese Waffen auch in Bagatellfällen anwendet, der bezahlt den
10 Augenblickserfolg meist mit Langzeitschäden.
211     Die Kräuterbranche meldet steigende Umsätze. Zahlreiche Länder der Dritten Welt
12 haben nicht zuletzt aus Versorgungsschwierigkeiten und Kostengründen die Wichtigkeit
13 der Heilpflanzen für ihr Gesundheitswesen erkannt. Um diesen Trend zu fördern, hat die
14 Weltgesundheitsorganisation entsprechende Forschungsprogramme in Gang gesetzt. So
15 haben die Pflanzenforscher in letzter Zeit herausgefunden, daß jedes Kraut in seiner
16 höchst komplizierten Zusammensetzung eine Fülle von Wirkstoffen enthält.
317     Zum Beispiel haben Wissenschaftler in der seit Jahrtausenden bekannten
18 Baldrianwurzel über sechzig chemisch reine Verbindungen entdeckt. Baldrian hilft, wie
19 man inzwischen weiß, keineswegs nur als Schlafmittel, sondern ebenso bei
20 Kreislaufbeschwerden, Gelenkschmerzen, Streß, Depressionen, usw. Daher wird es auch
21 »Störschutz für die Seele« genannt.
422     Die Rückkehr zu den natürlichen Heilmitteln hin bedeutet auch für Bernhard
23 Schmidt, dem Ärzte und Apotheker lange Zeit nicht wohlgesonnen waren, eine
24 nachträgliche Bestätigung. Früher ging es nicht an, daß einer, »ohne ordentlich studiert
25 zu haben, so einen Laden aufmacht.« Heute kommen Apotheker in seine Seminare.
526     Natürlich hat auch Bernhard Schmidt studiert, aber an der Front, im Bayerischen
27 Wald zum Beispiel. Mühsam hat er nach den letzten Kräuterweiblein gefahndet und
28 ihnen ihre Weisheit entlockt. »Die meisten haben nur ein einziges Rezept«, sagt Schmidt,
29 »auf das schwören sie. Aber insgesamt ist doch eine Menge Material
30 zusammengekommen.«
631     Nach seiner Erfahrung sind die besten Kräuter jene, die wie Unkraut wild und
32 unscheinbar am Wegrand wachsen - sofern sie nicht dem Auspuffgift der Autos
33 ausgesetzt sind. Alte Regel unter Kräutersammlern: 500 Meter links und rechts jeder
34 Autostraße wird nicht gesammelt.
735     Aber auch auf seiner Farm erntet Schmidt Heilendes. Und je nach Diagnose stellt
36 er für seine Patienten Kurbeutel zusammen, die aus 14 bis 18 Kräutern bestehen. Daß die
37 Wirkung entsprechend ist, belegt der Heilpraktiker mit überschwenglichen
38 Dankschreiben.
 
     Zeit Magazin, 1.2.1983