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Aufklären statt schrecken

Aufklären statt schrecken

11    Wenn am Wochenende die Sonne scheint, werden auf Deutschlands Straßen
2 Tausende von Motorrädern angeworfen. Ihre Besitzer sehen in ihren Maschinen ein
3 faszinierendes Mittel zu Freiheit und Mobilität. Das ist harmlos. dass es auch unter den
4 Motorradfahrern schwarze Schafe gibt, liegt auf der Hand. Doch pauschale
5 Negativurteile sind unangebracht. Fest steht zwar, dass Motorradfahren dreimal so
6 gefährlich ist wie Autofahren. Belegt ist aber auch, dass trotz ständig gestiegenen
7 Bestandes von Motorrädern die Unfallzahlen rückläufig sind. Die
8 Versicherungsgesellschaften senken die Prämien.
29    Der Münchner Sport- und Verhaltenspsychologe Rainer Kemmler sagt: »Es gilt,
10 den Motorradfahrer nicht abzuschrecken, sondern aufzuklären : ihn nicht mit
11 schrecklichen Unfallbildern in eine 'Jetzt-erst-recht'-Position zu drängen, sondern ihm die
12 Problematik des Zweiradfahrens zu erläutern.«
313    Erfahrung im Sinne von »erfahren« hätte zweifellos manchen schweren
14 Motorradunfall verhindert. Viele Zweiradfahrer werden plötzlich von Situationen
15 überrascht, kennen kein Gegenmittel. Wer weiß schon, dass Bremsen in Schräglage
16 aufgrund physikalischer Gesetzmäßigkeiten zwangsläufig ein Aufrichten der Maschine
17 zur Folge hat? Wer weiß schon, dass ein Motorrad nicht nur besser beschleunigt, sondern
18 auch besser bremst als jedes Auto?
419    Dies sind nur zwei Regeln aus einem mehr oder weniger unbekannten Katalog, die
20 für den motorisierten Zweiradfahrer lebenswichtig sind. Sie müssen »erfahren« werden.
21 Theoretisches Wissen nützt nichts, nur die Praxis überzeugt von den teilweise
22 widersprüchlich erscheinenden Gesetzmäßigkeiten, H.W. Bönsch, deutscher
23 »Motorrad-Papst«, sagt: »Das Bewegen von Motorrädern erfordert eine besondere
24 Einstellung, die nicht gleichbedeutend mit Lebensalter ist.«
525    Der Gesetzgeber versucht bei der Verkehrserziehung allzu häufig, Charakter zu
26 erzwingen. Nicht was er darf, sondern was er notfalls kann, ist lebenswichtig für jeden
27 Verkehrsteilnehmer - besonders für den motorisierten Zweiradler, weil bei ihm die
28 Knautschzone an der Nasenspitze beginnt.
Rheinische Post, 15.6.1985