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In schwindelnder Höhe schwindelfrei

In schwindelnder Höhe schwindelfrei

11    Eingerüstet wird alles, was sich zwecks Ausbesserung und Instandhaltung
2 überhaupt einrüsten läßt: Kirchen und Denkmäler, Türme, Hochhäuser, Bahnhöfe,
3 Brücken und andere Bauwerke jeder Art. Und auch der Wandbemaler kann darauf nicht
4 verzichten, denn erst diese Hilfskonstruktion macht es ihm möglich, seine Arbeit in
5 schwindelnder Höhe zu verrichten.
26    Gleichwohl: Ein gefährliches Geschäft ist das Gerüstbauen - und das
7 Daraufherumspazieren ist nicht minder riskant.
38    Gerüstbauer Walter Friedrich Buck erinnert sich eines Zimmermanns, der kletterte
9 eben mal auf ein hölzern-stählernes Gestell, richtete sich oben auf - und fiel schon
10 wieder runter. »Zum G1ück verletzte er sich nur leicht, ab er das mit dem Gerüstbauen das
11 war für den nix .« Für mich ist das auch nichts.
412    Da steh' ich nun in luftiger Höhe an der Turmwand der Hamburger St. Petri-Kirche
13 und lasse mir vom Bauingenieur Jürgen Perau die Schäden an den Mauern des
14 ehrwürdigen Gebäudes zeigen, die wenig stabilisierenden Bemerkungen einer Kollegin
15 noch im Ohr: »Ich könnt' das nicht - mir ist so schwindlig, dass ich schon vom
16 Raufschauen runterfalle.«
517    »Sehen Sie mal hier«, weist Jürgen Perau auf Risse im Mauerwerk und bewegt sich
18 traumwandlerisch selbstverständlich auf den Holzbrettern.
619    Etwa sieben Wochen waren zwei Gerüstbauer damit beschäftigt, das rund 4000
20 Quadratmeter große »Gespenst« hochzuziehen. Mehr als 50 Tonnen Stahl und Holz
21 haben sie an den Mauern des Turmes verankert und in den Fensternischen mit Hilfe von
22 Schellen, Schrauben, Rohren und Klemmen abgestützt.
723    Ein Lastenaufzug stand ihnen dabei erst ab einer Höhe von 25 Metern zur
24 Verfügung - bis dahin mußte geschleppt werden.
825    »Die Männer bewegen täglich bis zu zweieinhalb Tonnen«, sagt Walter Buck, »und
26 das häufig in beträchtlicher Höhe. Man kann sich ja kaum halten da oben, schwindelfrei
27 muß man schon sein: Aber das ist alles Gewohnheit.«
928    Im übrigen: »Entweder du kannst das, oder du kannst das nicht. Wenn ich sehe,
29 dass da ein Mann oben schon ein paarmal wo gegengelaufen ist, werde ich hellhörig, das
30 kann dann nicht gutgehen auf dem Gerüst, dann sag ich ihm: Laß es sein.«
1031    Es ist sehr wichtig, dass der Gerüstbau von qualifizierten Facharbeitern mit
32 entsprechender Ausbildung betrieben wird und nicht von Hans und Franz. Denn das ist
33 nun wirklich erstaunlich: Gerüstbauer ist kein Lehrberuf, es gibt keine
34 Ausbildungsverordnung, und nahezu jeder kann sich in diesem Gewerbe betätigen, ob er
35 davon nun viel Ahnung hat oder nicht.
1136    Doch was früher bei den einfachen Holzgerüsten vielleicht noch vertretbar war,
37 erscheint heute angesichts der häufig gewaltigen Konstruktionen grotesk und
38 abenteuerlich.
1239    Gerüstbau-Verbandsvize Moser hat's gern drastisch: »Es geht doch nicht an, dass
40 Leute, die eine Berufsausbildung haben, auf einem Gerüst arbeiten, das von einem
41 nichtausgebildeten Mann aufgebaut wurde, um sich schließlich von einem wiederum
42 ausgebildeten Mann beerdigen zu lassen.«
1343    Da wird mir schon wieder ganz weich in den Knien, hier oben auf dem Gerüst des
44 St. Petri-Kirchturms. Zum Glück ist dessen Erbauer Walter Buck allem Anschein nach
45 ein rechtschaffener Meister, der sein Handwerk versteht. Mein Vertrauen hat er
46 jedenfalls, und so wage ich getrost noch ein paar vorsichtige Schritte in luftiger Höhe.
1447    Das Zifferblatt der großen Uhr, Kupferteile an den Fensterbänken, das Dach des
48 Turmes und die Mauerschäden sollen in den kommenden Monaten ausgebessert werden.
49 Der Zahn der Zeit und vor allem die dicke Luft in Hamburgs Innenstadt machen auch
50 vor sakralen Gütern nicht halt. 600 000 Mark wird der Spaß wohl kosten - ein Drittel
51 verschlingt allein das Gerüst.
1552    »Wir können gerne noch etwas höher steigen«, lädt Bauingenieur Perau ein. Mir
53 reicht's fürs erstemal wirklich.
Zeitmagazin.20.6.1986