| | | Hilfe für die Schwachen |
1 | 1 | | Knapp 150 Jahre ist es her, dass ein englischer Naturforscher die ersten |
| 2 | | Wellensittiche von Australien nach Europa brachte. Inzwischen flattern mehr als 3,5 |
| 3 | | Millionen dieser anhänglichen Krummschnäbel in bundesdeutschen Wohnungen herum, |
| 4 | | geben »Küsschen« und krächzen zur Freude ihrer Besitzer Wörter wie »Süßer« oder |
| 5 | | » Dummkopf«. |
2 | 6 | | Ein Verhaltensforscher hat jetzt eine weitere Besonderheit der Kleinpapageien |
| 7 | | entdeckt. Wellensittiche, so fand der Freiburger Biologe Immanuel Birmelin heraus, |
| 8 | | helfen ihren Jungen beim Schlüpfen. So etwas wurde bislang bei keiner anderen Vogelart |
| 9 | | beobachtet. Normalerweise können sich die Sittichjungen selbst aus der Eihülle befreien. |
| 10 | | Sie besitzen dazu, wie andere Jungvögel auch, eine dornenartige Erhebung auf ihrem |
| 11 | | Schnabel. Mit diesem Eizahn machen sie einen Spalt in die Kalkschale, bis sich die |
| 12 | | Eishälften von innen auseinanderrücken lassen. Etwa jedem sechsten Sittich jungen aber |
| 13 | | gelingt es lediglich, ein kleines Loch in die Eischale zu brechen. Es müsste sterben, wenn |
| 14 | | ihm die Altvögel nicht helfen würden. Dazu knabbern die Sittichweibchen solange an der |
| 15 | | Eiöffnung, bis das zwei Gramm schwere Junge befreit ist. Birmelin: »Das geschieht |
| 16 | | natürlich nicht aus Einsicht, sondern ist eine instinktive Reaktion.« |
3 | 17 | | Sind Sittiche erst einmal geschlüpft, dann wachsen sie sehr schnell heran. Schon |
| 18 | | nach vier Wochen sind sie flugfähig, Weitere zwei Monate später können sie bereits |
| 19 | | selbst brüten. Diese rasche Geschlechtsreife hilft den Wellensittichen, in ihrer |
| 20 | | australischen Heimat zu überleben. Denn dort sind Regenzeiten mit genügend Futter für |
| 21 | | den Nachwuchs rar. Dazwischen dehnen sich immer wieder lange Dürreperioden, die nur |
| 22 | | robuste Vögel überstehen. Birmelin: »Diese natürliche Selektion hat die Wellensittiche |
| 23 | | hart im Nehmen werden lassen.« |
4 | 24 | | Ihre Widerstandsfähigkeit kommt ihnen auch als Haustier zugute. In der |
| 25 | | Gefangenschaft fehlt es ihnen zwar selten an Futter, dafür um so häufiger an |
| 26 | | Gesellschaft. Denn während die einheitlich grünen Wellensittiche in Australien in |
| 27 | | riesigen Kolonien bis zu 3000 Vögeln zusammenleben, müssen ihre bunt gezüchteten |
| 28 | | Verwandten bei uns zumeist allein in ihrem Käfig hocken. Um ihren Geselligkeitstrieb |
| 29 | | abreagieren zu können, behandeln sie selbst Plastikvögel oder einen kleinen Spiegel als |
| 30 | | Artgenossen. |
5 | 31 | | Und mit dem Menschen kann der Sittich schnäbeln - das ist die Instinkthandlung, |
| 32 | | auf der das» Küsschen geben« beruht. Ihm kann der Vogel das »Gefieder putzen«, indem |
| 33 | | er an den Haaren knabbert. Und auch das »Sprechen« beruht auf sozialem Verhalten : |
| 34 | | Der Wellensittich ahmt den »Gesang« des Menschen nach. |
6 | 35 | | Doch so lustig das alles Sittichhaltern erscheinen mag, für den Vogel bleibt es nur |
| 36 | | eine Ersatzhandlung. Birmelin empfiehlt deshalb, Wellensittiche nur zu zweit oder gar zu |
| 37 | | mehreren zu halten. Die Gefahr von unerwünschtem Nachwuchs besteht nicht. Die |
| 38 | | Kleinpapageien legen zwar manchmal Eier, bebrüten sie aber nur, wenn in ihrem Käfig |
| 39 | | ein Brutkasten aufgehängt wird. |