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Ich will, ich will, ich will

Ich will, ich will, ich will

Als 15-Jähriger verlor Florian Sitzmann bei einem Unfall die Beine. Wie er nach diesem Unglück weitermachte, beschreibt er in seinem Buch, das soeben erschienen ist. Es ist die Geschichte eines von ungezählten Menschen, die einen Schicksalsschlag erlitten haben. Und trotzdem ist es eine besondere Geschichte.

(1) Der Unfall, der
Florians Körper
halbierte und sein Leben in ein Davor und Danach teilte, ereignete sich im Sommer 1992 auf der A61. Es war Nacht, es regnete. Beim Auffahren auf die Autobahn rutschte das Motorrad wegen der nassen Fahrbahn zu weit nach links und geriet zwischen einen Lastwagen und seinen Anhänger. „Es kam ein Knall, ich flog durch die Luft. Ich dachte: Was ist denn jetzt passiert? Schmerzen hatte ich keine“, erzählt Florian. Sein Freund Stefan, der Fahrer des Motorrads, fiel in den Grünstreifen und blieb unverletzt.

(2) Eine Woche später wachte Florian aus dem künstlichen Koma auf. Nun begann, was er heute als „Glücksgeschichte“ bezeichnet — ein Anfang mit großer Naivität und konsequentem Ignorieren. „Nicht über eine Situation grübeln, die sich nicht ändern lässt“, war seine Devise. Ein ungeduldiges „Ich will“ trieb ihn an: gesund werden, selbständig wohnen, Auto fahren, arbeiten, tolle Sachen kaufen, Kumpels treffen, Mädchen kennenlernen. Selbstverständlichkeiten für Jugendliche mit zwei Beinen, Utopien für einen Schwerbehinderten, der 50 Operationen und vier Jahre in Kliniken vor sich hat. In einem Leben als bedauernswerter und rundum versorgter Invalide wollte er sich aber nicht einrichten.

(3) Erste Fortschritte bestätigten ihn. Der Genesende schaute stur auf sein Ziel. Die Jungfernfahrt im Rollstuhl endete zwar mit einem Sturz, hatte ihn aber zur Würstchenbude gegenüber vom Krankenhaus gebracht. An seinem 18. Geburtstag bestand er die Führerscheinprüfung. Er verliebte sich und zog mit seiner Freundin zusammen. In einem Reha-Fachhandel1) machte der Rollstuhlfahrer eine kaufmännische Ausbildung und bekam Zugang zu technischen Neuerungen, mit denen er die Grenzen, die sein neuer Körper ihm setzte, verschieben konnte. Er besuchte Partys, kreuzte nachts mit seinem auffälligen Lotus Super Seven („Da glotzten die Leute wenigstens wegen des Autos“), den er von dem von der Versicherung gezahlten Schmerzensgeld finanziert hatte, durch die Straßen. Er heiratete und bekam eine Tochter.

(4) „Weder Florian noch seine Eltern haben mir gegenüber jemals von Schuld gesprochen“, sagt Stefan, der damals das Motorrad fuhr und vom Gericht zum Unfallverursacher erklärt wurde. Er erinnert sich detailgenau an den Moment, als er, von Selbstvorwürfen zerfressen, beklommen die Intensivstation betrat, wo sein Kamerad Florian ums Überleben kämpfte. „Er sah mich an, und ich wusste, es geht weiter mit uns.“
noot 1 Reha-Fachhandel = speciaalzaak in hulpmiddelen voor gehandicapten